Wer viele Worte macht . . .

Zentrale Figur in Maxim Billers „Biografie“ ist das männliche Geschlechtsteil, in allen Varianten, Größen und Steifheitsgraden. Keine Seite ohne sein Vorkommen. Eine kalkulierte Provokation.

Eines gilt zweifellos: Maxim Biller kann schreiben, er ist ein Meister der Worte. In seinem neuesten Roman, „Biografie“, gibt es aber eindeutig zu viele davon. Die Handlung ist jedoch schnell erzählt: Der Ich-Erzähler und Autor Solomon Karubiner und sein bester Freund seit Kindheitstagen, der Millionenerbe Noah Forlani, treiben durchs Leben, durch Berlin, Hamburg, Prag, Tel Aviv, die USA, Galizien und ein wenig auch durch den Sudan – an sich selbst zweifelnd, neurotisch, arrogant und nach ihrem Gefühl sexuell stets unterversorgt.

Dabei lässt Biller kaum eine Seite verstreichen, in der er die Leserschaft nicht über den augenblicklichen Härtegrad des Geschlechtsteils zumindest eines der beiden Protagonisten informiert. Das kann über 900 Seiten hin mehr zermürbend als unterhaltsam sein. Nach 100 Seiten ist man erheitert von der frischen, abwechslungsreichen Schreibweise, die das Geschehen wie eine Filmkomödie von Woody Allen vorüberziehen lässt. Nach 200 Seiten wäre es ein hübscher Roman, würde er bald enden. Nach 300 Seiten wird man nervös, nach 400 ärgerlich, und spätestens nach der Hälfte kämpft man gegen den Drang an, den Schmöker endgültig beiseitezulegen.

Viel Bildungsbürgertum steckt darin, natürlich viel Bildung. Mindestens einmal pro Seite ist googeln angesagt. Biller verwendet gerne jiddische Ausdrücke, Ausdrücke aus dem Sex-Slang, mitunter Ausdrücke aus dem jiddischen Sex-Slang. Die findet dann selbst Google nicht mehr. Wer mag das Zielpublikum sein?, fragt man sich. Wer soll das lesen, zu welchem höheren Ziel? Nur l'art pour l'art?Zumal Biller auf Seite 362 schreibt: „Wer so viele Worte macht, dachte ich, als ich sie las, hat nie die ganze Wahrheit auf seiner Seite, und manchmal auch nicht die halbe.“

Die Ferda-Mravenec-Nachttischlampe, der Prouvé-Tisch, der Bruno-Mathsson-Sessel, die Zoo-York-Shirts: Beschreibt Biller, vergisst er kaum, jedem Accessoire penibel ein Firmenetikette anzunähen, was aber nichts zur Präzisierung einer Situation oder Person beiträgt, sondern als Marotte irritiert und aufhält, weil es den Eindruck vermittelt, hier will jemand damit glänzen, wie viele Modelabels und Couturiers er kennt.

Damit wirkt „Biografie“ wie ein zu bunt behängter Christbaum mit überladenen Ästen. Auf diesen Nebenästen verliert sich der Autor genüsslich, lässt seine Fantasie ausgelassen Polka tanzen. Erst mehrere Seiten später kehrt der Autor wiederum zur ursprünglichen Handlung zurück, die er meist aufgrund eines winzigen Apropos für einen assoziativen Einschub verlassen hat. Skurrile Kombinationen an Verwandtschaften, Eigenschaften, Berufen, persönlicher Geschichte und Gewohnheiten mischt Biller – eine verlässliche Trickkiste der Komödie.

In all der Opulenz an Hintergrundinformationen, Adjektiven und Ereignissen, vor diesem Wühltisch an Worten, Bezeichnungenund Vergleichen kann es dann schon einmal passieren, dass dem Autor Fakten verrutschen. Etwa wenn er vom Selbstmord des Komponisten Karel Swoboda erzählen lässt, dieser sich aber erst ein Jahr nach dem Zeitpunkt des Dialogs ereignet.

Das Personal des Buches ist ziemlich überspannt und wird durchwegs unappetitlich dargestellt. Nichts Schönes, kein Adonis, kein inneres Leuchten. Sie alle sind entweder dick, fetthaarig, hässlich, süchtig, haben Aufmerksamkeitsdefizite oder verhalten sich heimtückisch selbst gegenüber Freunden, sind charakterlich verkommen. Da Billers Ensemble fast nur aus über die Welt verstreuten Juden besteht, die miteinander verwandtschaftlich oder sexuell verbunden sind, und er immer wieder vom „jüdischen Selbsthass“ schreibt, fragt man sich, ob auch er dieser Haltung erlegen ist.

Konzentration auf die Leibesmitte

Vielleicht möchte Maxim Biller provozieren. Er bemüht sich jedenfalls eifrig, möglichst respektlos allem und jedem gegenüber zu schreiben. Das darf er als Vertreter einer Minderheit auch unbekümmerter tun als andere. Dennoch wirkt es unfair, wenn er in dieser unangreifbaren Position aus dem Vollen der politischen Unkorrektheit schöpft. Lässt Biller seinen Erzähler genüsslich von „Negern“ und „Polacken“ reden und über Eigenheiten des jüdischen Volks lästern, ist das weder lustig noch mutig, sondern unredlich.

Biller wiederholt nicht seine Witze, wohl aber die Running Gags. Nahezu permanent ist er anatomisch-thematisch auf die Leibesmitte konzentriert, das langweilt spätestens ab dem ersten Zehntel des Buches. Zentrale Figur der Geschichte ist nämlich weder Solomon noch sein brüderlicher Freund Noah, sondern das männliche Geschlechtsteil, in allen Varianten, Größen und Steifheitsgraden. Keine Seite ohne sein Vorkommen, also gut 900-malige Erwähnung, Beschreibung, Aktion, was extrem ermüdet. So fällt über die gewaltige Fabulierkunst Billers der Schatten des Verdachts beginnender Alt-Herren-Sex-Fantasien. Nicht immer sind dazu seine vielen Vergleiche gelungen.

Ab und zu blitzen ein paar geniale Passagen auf, die durchaus witzig sind, sie verlieren sich aber im Meer der 900 Seiten. Auch wenn Biller noch so sehr darauf achtet, in seinem Text zu variieren, Tempo herauszunehmen oder zu beschleunigen, Stilelementeund Orte der Handlung abzuwechseln – die Handlung plätschert höhepunktlos dahin, lässt beim Leser keine Empathie für jemanden aus dem Personal aufkommen.

Das Geheimnis eines raffiniert gekochten Gerichts liegt darin, dass man die Zubereitungsweise nicht kennt. Bei Biller kennt man aber Rezept und Zutaten nach dem ersten der fünf Teile von „Biografie“ in- und auswendig: möglichst weit hergeholte und mehrere Zeilen lange detaillierte Vergleiche; Gegenstände und Kleidungsstücke mit Namen einer Designfirma per Bindestrich verknüpft; lustvolle Unkorrektheiten gegenüber Mehr- wie Minderheiten; Erfinden erstaunlichster Lebensgeschichten auch von Nebendarstellern samt Abschweifungen über mehrere Absätze.

In ihrer Wiederholung werden die Stilmittel augenfällig, dadurch gerät das Gericht schal, und die Befürchtung bewahrheitet sich: Wer über 900 Seiten schreibend immer neu überwältigen will, müsste ein Genie sein. „Biografie“ ist wie eine riesige cremereiche Torte, von der man zu viel erwischen und Magenschmerzen bekommen kann. Hier hat ein Autor, selbstverliebt in seine Literatur, das Maß der Zumutbarkeit verloren.

Somit ist an „Biografie“ die Quantität des Romans und seines Materials mehr zu würdigen als die Qualität seiner Verarbeitung. Sachbücher mögen über Hunderte Seiten ihre Leser fesseln, weil ihnen ein anderer Anspruch entgegengebracht wird. Autoren der Belletristik sollten sich bei umfangreichen Schöpfungen jedoch vor Augen halten, wie viel Lesezeit, aber auch Lebenszeit ihres Publikums sie damit in Anspruch nehmen.

Ein Tipp. Einfach nur lesen, solange es Spaß macht! Im Wissen, dass es bis Seite 900 so weitergeht. ■

Maxim Biller

Biografie

Roman. 900 S., geb., € 30,90 (Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.06.2016)

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