Der Brenner und der liebe Gott

„Hör zu, warum soll jedes Blutbad mein persönliches Bier sein? An und für sich sage ich da schon lange, sollen sich die Jungen drum kümmern, quasi Credo.“ Beginn eines Romans.

Meine Großmutter hat immer zu mir gesagt, wenn du einmal stirbst, muss man das Maul extraerschlagen. Und da sieht man, wie ein Mensch sich verändern kann. Weil heute bin ich die Ruhe in Person. Und müsste schon etwas Besonderes passieren, dass ichmich noch einmal aufrege. Die Zeiten sind vorbei, wo mich alles gleich aus der Fassung gebracht hat. Hör zu, warum soll jedes Blutbad mein persönliches Bier sein? An und für sich sage ich da schon lange, sollen sich die Jungen drum kümmern, quasi Credo.

Ich persönlich schau heute lieber auf die positiven Seiten des Lebens. Nicht immer nur tschingbumm, und wer hat jetzt wem eine Kugel, ein Messer, ein Stromkabel, was weiß ich nicht alles. Mich interessieren die netten Leute viel mehr, die ruhigen, die normalen, wo man sagt, der führt sein normales Leben, der achtet Recht und Ordnung, der verwechselt sich nicht schon in aller Frühmit dem lieben Gott, sondern schön das ordentliche Leben, Anstand und alles.

Schau dir zum Beispiel den Chauffeur vom Kressdorf an. Also von dem bekannten Bauunternehmer, du kennst sicher die Lastwägen mit der grünen Aufschrift KREBA, sprich Kressdorf Bau. Die haben viel in München gebaut, zum Beispiel das das das. Und jetzt bei uns das Riesenland. Aber mir geht es nicht um den Kressdorf. Sondern um seinen Chauffeur. Weil so ein Kressdorf, der hat natürlich seinen Chauffeur, klare Sache, der kann nicht alles selber fahren. Vor allem, seit er wieder verheiratet ist, die junge Gattin in Wien, der KREBA-Firmensitz in München, dann ein zweijähriges Kind, treffen sie sich am einfachsten in der Mitte, sprich Kitzbühel. Weil in Kitzbühel natürlich die Geschäfte, die Kontakte, ja was glaubst du.

Für ein Kind kann das auch nicht gut sein, immer das Hin und Her, und ich glaube, die Tochter vom Kressdorf hat die Autobahn schon für ihrSpielzimmer gehalten.Aber ich muss zugeben, das ist einmal ein nettes Kind gewesen. Nicht wie heute die Kinder allgemein, also kein Bitte,kein Danke, kein Grüßgott, kein Aufwiedersehen. Andererseits ist esein Glück, dass sie sich so benehmen, weil so kann man die Kinder wenigstens noch von den Erwachsenen unterscheiden. Früher war es mehr die Größe, da hat man gesagt, ein Kleiner ist ein Kind und ein Großer ist ein Großer. Aber heute wachsen die Kinder ja so schnell, dass du von der Größe her keinen Anhaltspunkt mehr hast, ist es jetzt der Primar, der da so sportlich aus der Säuglingsstation herausspaziert, oder ist es der Neugeborene selber. Und da ist es eben umgekehrt wie früher, und Faustregel: Der weniger Arrogante ist der Primar.

Jetzt weil ich gerade sage Säuglingsstation. Die Frau vom Kressdorf ist Ärztin gewesen, die hat ihr eigenes Institut gehabt, eine kleine Etagenklinik im 1. Bezirk. Gute Ärztin, aber leider in letzter Zeit viele Probleme mit den Betschwestern vor dem Haus, sprich Demonstranten. Die sind gegen Abtreibungen gewesen, weil das war eben ihre Überzeugung, es soll nicht sein, tausend Gründe, der liebe Gott, die Jungfrau Maria und und und.

Zum Glück war der Chauffeur so ein robuster Mensch, weil an manchen Tagen wäre ein schmächtiger Chauffeur auf verlorenem Posten gestanden. Da hat er das Kind der Ärztin an den Rosenkranzrowdys vorbeischmuggeln müssen wie der reinste Stadionpolizist, der den Schiedsrichter gerade noch vor der Lynchjustiz rettet.

Jetzt der Vater auch gerade viel Stress, weil Bauunternehmer immer Stress, und darum das Kind natürlich auch Stress. Weil wenn du heute zwei Eltern hast, die keine Zeit, aber fünfhundert Autobahnkilometer zwischen sich haben, dann kommst du als Kind natürlich nicht mehr von der Autobahn herunter. Und da darf man einem Kind nicht böse sein, wenn es den Chauffeur zu seiner wichtigsten Bezugsperson ernennt. Und ob du es glaubst oder nicht, das erste Wort vom Kressdorf-Kind nicht „Mama“, erstes Wort nicht „Papa“, erstes Wort „Fara“.

Das war aber schon mindestens ein halbes Jahr her, weil inzwischen hat die kleine Helena in ihrem Kindersitz schon geplappert, dass der Fahrer fast kein Autoradio mehr gebraucht hat. Und vor allem beim Verstehen war sie sehr gut. Der Herr Simon hat das Gefühl gehabt, dass dieses Kind ihn besser versteht als die meisten Erwachsenen, mit denen er in seinem Leben zu tun gehabt hat. Er hat der Helena erzählen können, die schwierigsten Sachen, Probleme, alles, und das zweijährige Mädchen am Rücksitz hat das verstanden. Umgekehrt hat sie ihm immer alles haarklein berichtet, wenn er sie von der Tagesmutter abgeholt hat, und der Herr Simon immer ein aufmerksamer Zuhörer. Da war einfach ein geistiger Draht da, Seelenverwandtschaft Hilfsausdruck.

Überhaupt war der Herr Simon sehr zufrieden mit seinem neuen Leben, weil nicht immer Chauffeur gewesen, sprich verschiedene Berufe ausprobiert, aber über fünfzig hat er werden müssen, damit er seine Sache findet. Wo andere schon an Pension und Rente denken, hat der Herr Simon erst ein richtig gutes Berufsleben angefangen. Einmal die fünf Stunden von Wien nach München, dann wieder die fünf Stunden von München nach Wien, manchmal auch mit der Mutter, selten einmal mit dem Vater, aber immer mit dem freundlichen Kind, das ihn so gut verstanden hat. Das hat ihm so getaugt, das kann sich ein anderer, der nicht so zum Chauffeur geboren ist, gar nicht vorstellen. Und du darfst eines nicht vergessen. Schlecht gezahlt hat der Kressdorf nicht. Das schlechte Gewissen dem Kind gegenüber hat sich so ausgewirkt, dass sie den Chauffeur übertrieben gut gezahlt haben. Oder war es auch nicht so sehr das schlechte Gewissen, sondern einfach die Sorge um das Kind. Ein richtiger Auflauf war zwar selten vor der Abtreibungsklinik, aber die stille Bedrohung von den Betschwestern fast noch beängstigender, weil seufzende Aggression immer am schlimmsten, und altbekannte Tatsache: Hinter jedem Massenmörder steht eine Massenseufzerin.

Die Frau Doktor war wahnsinnig froh über den verlässlichen Fahrer. Weil der hat seinen Job ernst genommen, frage nicht. Wenn da nur das geringste Geräusch irgendwo war, ein Klingeln von der Lüftungher, oder ein Scheibenwischer hat einen minimalen Streifen gemacht, oder wenn da eine Fußmatte nicht gerade gelegen ist, das wäre ihm unmöglich gewesen, dashat er dem Kind nicht zugemutet. Und da hat er nicht gesagt, die Helena sieht von ihremKindersitz aus meine Fußmatte sowieso nicht, sondern aus Prinzip immer alles picobello.

Jetzt hat der Chauffeur sich wahnsinnig geärgert, dass er gestern auf das Tanken vergessen hat. Weil das ist ihm noch nie passiert, dass er schon mit der Helena aus Wien hinausfährt, und nach fünf Minuten schaut er auf die Tankuhr, und ob du es glaubst oder nicht: Er hat am Abend nicht getankt, sprich nur mehr Benzin für hundertneunzig Kilometer!

Aber das ist vielleicht auch an den Tabletten gelegen. Weil nicht nur positive Wirkung. Eine gewisse Zerstreutheit. Möglich wäre es, dass es von den Tabletten kommt, hat der Chauffeur überlegt, während er Ausschau nach der nächsten Tankstelle gehalten hat. Er hat überhaupt viel über die Wirkung der Tabletten nachgedacht. Einerseits hat er nicht mehr so gut geschlafen, andererseits ist es ihm bessergegangen, seit sie ihm die Tabletten verschrieben haben, wo man sagt, da ist der Tag ein bisschen sonniger für dich. Du musst wissen, vorher war nicht mehr viel los mit ihm, besonders seit ihn seine letzte Freundin verlassen hat. Obwohl ich da auch die Frau verteidigen möchte, und ich glaube eher, sie hat ihn verlassen, weil es schon nicht mehr auszuhalten war mit ihm. Und seine Freundin hat ihm ja sogar noch den Arzt verschafft, weil der Herr Simon ein Leben lang Arztmuffel.

Aber dann hat er die Tabletten nicht genommen, weil nicht nur Arzt-, sondern auch Tablettenmuffel. Und erst wie die Freundin dann endgültig weg war, und wie dann der Kühlschrank eines Tages vollkommen leer war, und auch die anderen Schubladen, also Dosen und so weiter, Nudeln, Reis, alles leer, also wie dann nur mehr die Tabletten da waren, da hat er die Tabletten gegessen.

Und seither wie ausgewechselt! Mehr das Positive! Das hat man zum Beispiel heute früh gemerkt, wo wieder einmal die Kampfbeterinnen von Proleben vor der Klinik Spalier gestanden sind. Und er hat die kleine Helena fast nicht an ihnen vorbeigekriegt, weil sie ihm von links und rechts die Rosenkränze und Embryofotos unter die Nase gehalten haben wie im reinsten Sizilien. Da wäre ihm früher garantiert die Hand ausgekommen, dass die Plastikembryos mit den Rosenkranzperlen nur so um die Wette gespritzt wären. Aber durch die Tabletten viel gelassener. Und mit der Gelassenheit kommst du ja viel weiter.

Und auch die Tankstelle hat er sich jetzt schon wieder verziehen, weil er hat gesagt: Ein kleiner Fehler kann jedem einmal passieren. Und für ein zweijähriges Kind ist der Betrieb auf so einer Tankstelle ja sogar interessant, da kann es beim Fenster hinausschauen, schön die Leute beobachten, Schlauch, Zapfhahn, Einweghandschuhe, alles. Und du darfst eines nicht vergessen. Die beweglichen Zahlen, etwas Schöneres gibt es nicht für eine Kinderseele.

Er ist so schnell wie möglich durch die Autotür geschlüpft und hat sie hinter sich zugeschlagen, da hätte man glauben können, Tankstellenüberfall. Aber er hat eben verhindern wollen, dass zu viele Dämpfe zur Helena hineinkommen. Weil die giftigen Dämpfe natürlich, die sind schon ein bisschen für ein Kind. Also ich will nicht unbedingt sagen schädlich, aber gut bestimmt nicht. Umgekehrt hat der Fahrer sich gesagt, und da waren jetzt vielleicht schon wieder die Tabletten ein bisschen an der Arbeit: Ein paar Dämpfe muss ein gesundes Kind aushalten.

Beim Tanken hat er durch das Seitenfenster hinein ein paar Gesichter geschnitten für die Helena. Aber kein Effekt, weil sie hat ihn ganz ruhig angeschaut. Und der Chauffeur hat sich gedacht, siehst du, die Helena weiß genau, dass ich im Grunde nicht so ein Grimassenschneider bin, und dann hat er normal geschaut, und pass auf: Jetzt hat die Helena gelächelt. Da siehst du schon, was für ein Einverständnis die beiden gehabt haben, kein Wunder, wenn man schon so viele Stunden gemeinsam auf der Autobahn verbracht hat.

Aber dann das Scheibenwaschen, das glaubst du gar nicht, was das für ein Hallo bei der Helena war, da hat der Chauffeur Angst gekriegt, die Alarmanlage geht los, so hat das Kind gelacht und gestrampelt, wie der Schwamm über die Windschutzscheibe gefahren ist, und nachher mit dem Gummi das Wasser abstreifen, das hat ihr fast noch besser gefallen. Jetzt hat der Chauffeur sich gesagt, in Zukunft werde ich immer erst unterwegs tanken, wenn ihr das so gefällt, und er hat sogar extra die sauberen Seitenscheiben auch noch geputzt, und die Heckscheibe, aber da hat die Helena nicht mehr so viel davon gehabt, weil Schwierigkeiten mit dem Umdrehen im Kindersitz.

Bevor er zum Zahlen in den Shop hineingegangen ist, hat er das Auto ein paar Meter zur Seite gestellt, ein bisschen weg von den Dämpfen, zum Druckluftgerät hinüber. „Ich bring dir eine Schokolade mit“, hat er beim Aussteigen gesagt, weil nie „Schoggi“ oder irgendwie Babysprache, sondern der Fahrer immer korrektes Deutsch mit der Helena, aus Prinzip. Schokolade war aber trotzdem nicht ganz korrekt, weil eigentlich hat die Frau Doktor ihm eingeschärft: „Keine Schokolade, Herr Simon. Überhaupt kein Zucker!“

Der Herr Simon hat der Frau Doktor schontausendmal erklärt, dass es ja vorläufig erst die Milchzähne sind, dass da sowieso noch ein zweites Paar kommt, also Paar nicht, sondern eben eine zweite Belegschaft quasi, und da kann man dann immer noch sagen, weniger Schokolade. Oder zumindest, nicht beißen. Die Frau Doktor natürlich wieder alles besser gewusst, obwohl sie gar keine Zahnärztin war, und der Chauffeur hat sich manchmal im Stillen gedacht, bei ihren Abtreibungen werden ihr noch nicht so viele Zähne untergekommen sein. Aber Argumente sinnlos, weil dann hat sie eben behauptet, die Schokolade auch schlecht für den Ausschlag, den die Helena an den Händen gehabt hat.

Sonst eine ausgesprochen nette Frau. Nett, intelligent, Spitzenfigur, alles. Der Chauffeur hat den Kressdorf sogar ein bisschen um sie beneidet, aber es war kein böser Neid, sondern fast möchte ich sagen, ein positiver Neid, und das muss auch von den Tabletten gekommen sein. Weil er hat sich gesagt, warum soll sich eine Frau wie die Frau Doktor einen wie mich suchen, wenn sie einen wie den Kressdorf haben kann. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.08.2009)

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