Der Vater tot, das Erbe ruft

Ein Mann wird von drei Frauen geliebt. Aber nicht die drei sind eifersüchtig aufeinander, es sind die Geschwister des Mannes, die um das Erbe fürchten. Sándor Márais 1937 erschienener Roman „Die Eifersüchtigen“: in neuer Übersetzung, aber mit der alten Überfülle an Stoff.

Peter Garren ist ein wohlhabender Mann. Er lebt in einer idealen Kleinstadt am See, verdient sein Geld als Personalchef eines fantastischen Firmenimperiums und wird von Edit, einer Opernsängerin, geliebt. Damit es nicht zu langweilig wird, unterhält Peter ein Verhältnis mit der schielenden Zimmermannstochter Karola, Typ süßes Mädel, 26 Jahre alt. Und da ist noch die Baronin, Schriftstellerin, auch sie ist Peter in Liebe zugetan. Aber in Sándor Márais Roman „Die Eifersüchtigen“, 1937 veröffentlicht, sind nicht diese drei Damen eifersüchtig aufeinander. Es sind vielmehr Peters Geschwister, die sich rivalisierend beobachten, geht es doch um das Erbe einer Familie.

Der Roman beginnt mit der Nachricht vom bevorstehenden Tod des Vaters. Anna hat ihrem Bruder Peter einen Brief geschrieben: „Komm sofort, wenn du ihn noch lebend sehen willst.“ So nimmt Peter Garren Abschied, scheint es doch eine Trennung für immer zu werden. Aber erst 120 Seiten später darf Garren in das Flugzeug steigen. Zuerst irrt der Leser durch Monologe und Traumgeschichten, mühsam verfolgt er die Schicksale der drei Frauen und schließlich wird noch (Roman im Roman!) die Geschichte von Emmánuel erzählt. Dabei handelt es sich um einen kleinwüchsigen, hinkenden, gottähnlichen Tycoon, der gern als Weltenherrscher und Kriegsherr agiert, der nach Laune Chemiefabriken, Flüsse, ganze Theater oder auch einzelne Sängerinnen kauft und eine völlig neue Art von Wald (Bäume mit blauen Blättern!) entwickelt. Die fantastische Welt von Alfred Kubins Roman „Die andere Seite“ könnte hier Pate gestanden haben.

Nach all diesen Um- und Nebenwegen darf Peter in seine Heimatstadt fliegen, um seine Geschwister zu treffen. Der Vater, Gabor Garren, war Musiklehrer, verstand sich aber als großer Künstler. Schon zu Lebzeiten ist er eine mythische Figur, sein Leben lang habe er an einem großen „Werk“ gearbeitet. Aber „Garrens Werk“ ist nichts Materielles, keine Komposition. Handelt es sich bei diesem Werk womöglich nur – wie man munkelt – um Garrens „Treue zur Heimat“? Leider wird der Leser – wie so oft in diesem Roman – mit Andeutungen im Stich gelassen.

In den folgenden Kapiteln schildert Márai die Familiengeschichte der Garrens wie eine Legende aus dem Goldenen Zeitalter. Der Großvater Mátyás war Bürgermeister der Stadt und Kaufmann. Sein Sohn Gábor war dreimal verheiratet, ließ in einem alten Verkaufsschuppen eine Notendruckerei einrichten, in der aber aus purem Snobismus nie ein Notenblatt gedruckt wurde. Gabor geriert sich als dandyhafter Rebell, liest Rousseau und Macchiavelli im Original und lebt für das „Werk“. Seine Tochter Anna ist im Haus geblieben, Bruder Tamas, ein Ordnungsfetischist, reist durch die Welt, hält sichin Kalifornien und Peru auf, ist aber immer in Geldnot. Drei Seiten verwendet Márai allein, um seinen Hut zu beschreiben. Albert ist als Erster zurückgekommen, er hat sich in der Druckerei einquartiert, um sich, wie vermutet, bei der Teilung der Immobilien Vorteile zu verschaffen. Und dann ist noch der extravagante Schönling Edgar zurück, der schon als Kind verhätschelt wurde.

Beim Weg durch die alten Gassen leben die Erinnerungen auf, die Geschwister blättern in ihren Kinderzeichnungen und beschwören eine edle Welt von gestern. Zwischendurch lenkt uns ein (völlig überflüssiger) 18-seitiger Brief der Baronin ab und zuletzt wird die surreal wirkende Besetzung der Stadt durch benachbarte Militärs geschildert, und man rätselt: Ist hier von Márais Geburtsort Kaschau (Košice) die Rede und von der vorübergehenden Besetzung durch polnische Soldaten im Jahr 1919? Aber der Autor lässt die Stadt an einem Meer liegen und verweigert jede historische und geografische Zuordnung. Alles soll in vagen Koordinaten bleiben und immer ein bisschen an Kafka erinnern.

Márais Problem mit der Arbeitsökonomie ist offenkundig. Es befanden sich einfach zu viele Stoffpakete auf dem Schreibtisch. Dazu kommt: Die Raffinesse, mit der diese Überfülle gebändigt werden sollte, war zu schwach. Denkbar wäre auch, aus den einzelnen Episoden nicht einen labyrinthischen Roman, sondern einen Erzählband zu machen. Das Patchwork-Verfahren löst auch ein stilistisches Wirrwarr aus: Surreal-traumhafte Fantasien folgen auf nüchterne Schilderungen, differenzierte Psychogramme werden von expressionistischen Ausbrüchen unterbrochen, apokalyptische Gereiztheit mündet in esoterisch-banale Lebensweisheit. Viele Beispiele könnte man für Márais oft kurios überdrehte Vergleiche anführen, wie zum Beispiel: „Er hatte den Anzug benutzt wie ein spitzes und scharfes Messer.“

Leider hat es der Piper Verlag, der mit all den Márai-Büchern schon viel Geld verdient hat, nicht der Mühe wert gefunden, den Leser darüber zu informieren, welche Fassung des Romans man in Händen hat. Das Impressum verweist auf die Ausgabe von 1937. Diese Angabe dürfte jedoch unzutreffend sein. Im Márai-Handbuch von Mihály Szegedy-Maszáks (1991) ist zu lesen, dass Sándor Márai gegen Ende des Lebens sechs Bände seines früheren Werks überarbeitet und zu seinem nun zweibändigen „Garren-Werk“ erklärt hat („A garrenek müve“. 1988, Toronto). Christina Kunze hat also wohl Márais Fassung von 1988 übersetzt. Darauf dürfte auch die bei Piper abgedruckte Widmung „In memoriam Lola“ verweisen, denn diese Zeile kann der Ausgabe von 1937 nicht vorangestellt gewesen sein, weil Márais Ehefrau Lola erst im Jahr 1986 gestorben ist. ■

Sándor Márai

Die Eifersüchtigen

Roman. Aus dem Ungarischen von Christina Kunze. 556 S., geb., € 24,70 (Piper Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.07.2016)

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