Unter die Haut

Im Umfeld von Montessori- und Waldorfkindergärten blühen sie auch bei uns: die Ängste vor der Impfung. Über deren Entstehung und Propaganda sowie über die Mühsal, Dummheit oder bestenfalls Unwissen zu begrenzen, hat Eula Biss „Immun“ geschrieben.

Eula Biss, amerikanische Schriftstellerin, ist nach der Geburt ihres Sohnes von teilweise nachvollziehbaren und vielen übertriebenen Ängsten geplagt. Sie versucht während ihrer „Brutpflegezeit“, der Wahrheit über Impfungen nahezukommen. Glücklicherweise ist ihr Vater Arzt und nordet den Weg seiner Tochter durch ihr gut recherchiertes, aber verschlungenes Labyrinth von Aberglauben, Mythen, Wahn und schlichter Geschäftemacherei immer wieder, indem er klare Botschaften ausspricht. Etwa, als Eula seine Meinung zu den beliebten Windpockenpartys erfragt und meint, „manche Menschen wollen eben, dass ihre Kinder Windpocken bekommen, weil“, und er beendet den Satz, „sie Idioten sind“! An und für sich ist zum Thema Impfangst nicht viel mehr zu sagen. Da aber im Umfeld von Montessori- und Waldorfkindergärten auch in Österreich wegen mangelnder Durchimpfung Masernepidemien auszubrechen drohen und Biss' Buch eines über Ängste, deren Entstehung und Propaganda sowie die Mühsal, Dummheit oder bestenfalls Unwissen zu begrenzen, ist, soll es ausführlicher besprochen werden.

Dracula und Vampire werden zu Hilfe gebeten, um den schlichten Aberglauben zu schüren, man könne mit Durchstechen, Durchbeißen, Durchdringen der Haut übertragbare Krankheiten verbinden. Die Taliban und die Schariagerichte in Nigeria verboten im 21. Jahrhundert Polioimpfungen mit der Begründung, dass der Impfstoff vorsätzlich mit Medikamenten, die unfruchtbar machen, gepantscht werde und HIV verursache. Impfärzte wurden verfolgt und ermordet. Erst nachdem eine muslimische Herstellerfirma gefunden wurde, konnte die Impfkampagne mit einem Halal-Impfstoff wiederaufgenommen werden. Immerhin! Kinderlähmung ist eine Erkrankung, die in geimpften Populationen nicht mehr auftritt und in hohem Maß von der Durchimpfung einer Bevölkerung abhängig ist. Nun ist sie nicht nur in Nigeria, Pakistan und Afghanistan wieder im Vormarsch.

Die weltweite Ausrottung der Pocken ist 1980 erklärt worden. Diese Erkrankung hat Millionen Tote gefordert, und Millionen hat die Impfung gerettet. Im 19. Jahrhundert warnte ein anglikanischer Bischof vor dieser, eine Narbe zurücklassenden, Impfung als einer Injektion der Sünde, einer „abscheulichen Gemengelage aus Verderbtheit, den übelsten Lastern und dem Bodensatz lässlicher Versuchungen, die im späteren Leben auf den Geist abfärben, die Hölle im Inneren entstehen lassen und schließlich die Seele überwältigen“. Da gefällt mir die radikalislamische Verschwörungsangst besser, wiewohl diese noch 2011 durch die republikanische Präsidentschaftskandidatin, Michele Bachmann, übertroffen wurde, die von den verheerenden Wirkungen des Papillomavirenimpfstoffes warnte: „Es sei falsch, unschuldige, kleine zwölfjährige Mädchen dazu zu zwingen, von der Regierung eine Impfung zu bekommen.“ Viele mutmaßen gewiss, dass diese Immunisierung gegen Gebärmutterkrebs und anogenitale Warzen der Promiskuität Tür und Tor öffne, weil die geimpften Jugendlichen wähnen, sich davor nicht mehr schützen zu müssen.

In Eula Biss' Buch „Immun“ findet man nach einer Abhandlung über Staat, Herdenimmunität und die enge Beziehung zwischen Regierungen und Schutzimpfungen den Satz „Wir lehnen das Impfen unter anderem auch deswegen ab, weil wir uns selbst regieren wollen.“ In ihrem wogenden Meer von Metaphern und Meinungen sind weiterhin Vaters Beiträge die Orientierung gebenden Bojen im Sturm. Er findet: „Wer ärztlich betreut werden will, muss jemandem vertrauen!“ und überantwortet damit dem Patienten Verantwortung in der Arzt-Patienten-Beziehung. Besonders gefällt mir: „Impfen funktioniert dann, wenn man eine Mehrheit auf den Schutz einer Minderheit verpflichtet.“ Auf die Frage, woher Krebs komme, antwortet er knapp: „Vom Leben.“ Wissen, das sich aus Erfahrung speist, und Kommunikation, die sich analog abwickelt, scheinen in der US-amerikanischen Gesellschaft gerade verloren zu gehen.

Immunologen beschreiben das Immunsystem mit kriegerischen Ausdrücken. Es geht um Kämpfe und Killerzellen, Zellen werden gefressen, Viren penetrieren Zellen. Wohingegen Alternativmediziner von Balance, Harmonisierung, Gezeiten, Kräften sprechen und Metaphern wie das Perpetuum mobile, das Sonnensystem und die wachsame Mutter bemühen. Das könnte in den USA, deren Rüstungsausgaben die aller anderen Länder der Welt zusammengenommen übersteigen, eine gesonderte Liebe zur Sanftheit in der Medizin und die Sehnsucht nach Unversehrtheit des individuellen Körpers bedingen. Oder aber, wie Biss es treffend ausdrückt, „reichere Länder haben den Luxus, Ängste zu pflegen, die sich der Rest der Welt gar nicht leisten kann“, wobei sie auf die Beimengung von geringen Mengen Thiomersal, einem Quecksilberabkömmling, Bezug nimmt, der Impfungen haltbar, transportfähiger, billiger und mit anderen Impfstoffen kombinierbar macht, was vor allem Müttern und deren Kindern in Entwicklungsländern zugutekommt.

Den Unsinn, den Dr. Bob, ein Antiimpfguru, verbreitet, macht klar, wie tief man im Meinungsfreiheitsmorast versinken kann. Er fordert Eltern auf, ihre Kinder nicht impfen zu lassen und sie der natürlichen Immunisierung durch Infektion preiszugeben. Dass man vom Impfen nicht autistisch wird, wie noch heute viele glauben, berichtigt er nicht. Dass Kinder unter fünf Jahren bei einer Maserninfektion in einem Fall von 3300 eine schwere Gehirnentzündung bekommen und daran sterben, scheint ihm keine Überlegung wert, ebenso wenig, wie es die Kolonisatoren gestört hat, dass Masern und andere nach Amerika importierte Erkrankungen die indigene Bevölkerung auszurotten halfen.

2013 hat es in Deutschland bereits wieder 1000 Masernfälle gegeben, was an der sogenannten Impfmüdigkeit liege. Ich hingegen bin oft der Alternativmedizin müde und lege jenen, die sich über Impfen erkundigen wollen, die Website des deutschen Robert-Koch-Instituts, eine exzellente Informationsquelle, nahe, oder die Impfempfehlungen österreichischer Institutionen einzusehen. Wer all dem immer noch keinen Glauben schenkt und seine Meinung an aus dem Netz kommenden Informationen orientiert, kann sich an Facebook-Gründer Zuckerberg halten, der nach der Geburt seines ersten Kindes zu Impfungen aufruft und deshalb einen Shitstorm geerntet haben soll. Was wohl dazu Biss' Vater Treffendes sagen würde? ■

Eula Biss

Immun

Über das Impfen – von Zweifel, Angst und Verantwortung. Aus dem Englischen von Kirsten Riesselmann. 240 S., geb., € 20,60 (Hanser Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.07.2016)

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