Was ich lese

Kabarettistin, Poetry-Slammerin, Förderpreis des Österreichischen Kabarettpreises
[ Foto: Moritz Schell ]

Meine persönliche Lese-Empfehlung an Sie lautet: Hören Sie auf damit! Hören Sie auf, Zeitung zu lesen, lassen Sie die Zeit für Sie filtern, und greifen Sie in 20 Jahren zu einem Geschichtsbuch, um zu erfahren, wer die Kriege von heute gewonnen haben wird. Hören Sie auf, schamlosen Protagonisten zu lauschen, die vor jedem Leser wahllos die Beine spreizen, in der verzweifelten Hoffnung, jemand möge sich in sie hineinversetzen. Hören Sie auf, fremde Meinungen zu lesen, sofern Sie den wahnwitzigen Traum hegen, jemals eine eigene zu besitzen.

Sollten Sie wahrlich gute Unterhaltung wünschen, lesen Sie Packungsbeilagen, Raucherwarnungen und Nährwertinformationen. Wer braucht Dürrenmatt, wenn man auf Studentenfutter zu lesen bekommt: „Kann Spuren von Nüssen enthalten.“ Wer braucht Benn, wenn man die Nebenwirkungen von Aspirin vor Augen hat? Wer braucht Hesse, wenn man stattdessen einfach Noppenfolie zerdrücken kann?

Der Grad an Vergnügen, den Ihnen ein Roman bereitet, verhält sich indirekt proportional zum Unterhaltungswert Ihres Lebens. Sie werden mit Freuden in fremde Welten entführt und empfinden esals Genuss, sich von emotionsgeschwängerten Erzählungen fesseln zu lassen? Gratuliere, Sie leiden an einem schweren Stockholm-Syndrom!

Doch falls Sie es einfach nicht lassen können, Ihrem Gegenüber in derU-Bahn den schicken Einband Ihres Intellekts entgegenzuschleudern, dann lesen Sie alles von Slavoj Žižek, Michel Foucault & Sigmund Freud, und Sie müssen Ihr Lebtag kein Buch mehr in die Hand nehmen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.09.2016)

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