Was ich lese

Schauspielerin, Sängerin, Lehrbeauftragte an der Wiener Musikuniversität
[ Foto: Alexander Tuma/Picturedesk ]

„Was ich dir schon immer sagen wollte“ war die erste Erzählung, die ich von Alice Munro las und die mich sofort in den Bann dieser Schriftstellerin zog. Es war die Sprache, die mich faszinierte und nicht mehr losließ. Es gelingt Munro, in der Kleinstadt, in der die Erzählung spielt, unerbittlich, scharf gezeichnet, in äußerster Knappheit einen Kosmos aufzuzeigen, der alles enthält, was es im menschlichen Leben an Glück, an Gelungenem, aber vor allem an nicht Gelungenem, Versäumtem, Unausgesprochenem et cetera gibt.

Diesen schonungslosen Blick auf die Verhältnisse unserer Existenz zeigt sie in allen ihren Erzählungen. Keine Beschönigung, aber auch keine Wertung oder Bewertung der Menschen, sondern eine Darstellung der Verstrickungen, die durch Lügen, durch Verschweigen, durch Leidenschaften, durch tödliche Kränkungen, unerwiderte Liebe oder Unfähigkeit, sie zu zeigen, entstehen.

Oft wird mit großer Anstrengung eine Fassade aufrechterhalten. Ohne Aufhebens begeht jemand unvermutet Selbstmord. Lebenswege, die an einem bestimmten Punkt in die „falsche“ Richtung gegangen sind. Resignation, aber Resignation mit Haltung (zum Beispiel die Mutter im Roman „Kleine Aussichten“).

Immer wieder hat man den Eindruck, Autobiografisches zu lesen. Für mich ist es, als spielten sich unsere Leben in Alice Munros Erzählungen unter einer leichten, grau-weißen Schicht ab; schwer, diese anzuheben oder gar zu durchstoßen. Bei aller Distanziertheit und Zurückhaltung ihren Figuren gegenüber spürt man zugleich die Achtung und Zuwendung, mit der sie diese auf ihrem Weg begleitet. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.09.2016)

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