Der Hetzer

Sie haben eine lange, wechselvolleGeschichte: die Tagebücher von NS-Reichsleiter Alfred Rosenberg. Sie belegen eindrucksvoll, dass die „Volksgemeinschaft“ an der Spitze des Reiches eher eine „Wolfsgemeinschaft“ war.

Im Jahr 2015 publizierten die Historiker Jürgen Matthäus und Frank Bajohr die Tagebücher von Alfred Rosenberg, der sich als Philosoph und Chefideologe des Nationalsozialismus verstanden hatte. 2016 erschien auf Deutsch der Bericht von der jahrzehntelangen Suche nach diesen Tagebüchern von Robert K. Wittman und David Kinney. Wittman war ein Spezialist des FBI für gestohlene Kunstobjekte. Er kannte alle Tricks und war der zähe Ermittler bei der Suche nach den versteckten Tagebüchern. Kinney ist ein Journalist, der dem Bericht eine schmissige Form geben sollte. Warum waren Rosenbergs Tagebücher wichtig für die Erforschung des Nationalsozialismus? Von den Potentaten der NS-Herrschaft hatte nur Joseph Goebbels ein mehrbändiges Tagebuch hinterlassen, ein unentbehrliches Dokument für die innere Geschichte des Nationalsozialismus. Von Rosenbergs Tagebüchern erwartete man sich weitere Erkenntnisse.

In dem Drama (manchmal auch eine Kriminalkomödie), das von Wittman und Kinney erzählt wird, gibt es zwei Hauptpersonen: Alfred Rosenberg und Robert Kempner. Der Deutsch-Balte Rosenberg studierte Architektur in Riga und Moskau, schloss sich in München frühzeitig den Nationalsozialisten an und gehörte zum engeren Kreis von Adolf Hitler. Drei Obsessionen brachte er mit: einen pathologischen Antisemitismus, einen scharfen Antikommunismus, später zusammengefasst in dem mörderischen Propagandaslogan „jüdischer Bolschewismus“, und einen tiefen Hass auf die christlichen Kirchen. Sein Buch „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“, 1930 erschienen, galt neben Hitlers „Mein Kampf“ als heiliges Buch des Nationalsozialismus. Zwar meist nur selektiv gelesen, erreichte der „Mythus“ riesige Auflagen.

Nach 1933 war Rosenberg für die weltanschauliche Schulung und Erziehung der NSDAP zuständig. Im Krieg war sein „Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg“ bei den gigantischen Raubzügen der Nationalsozialisten in den besetzten Gebieten tätig. Als Reichsminister für die besetzten Ostgebiete war er der oberste Chef der Zivilverwaltung im Osten, in dieser Position mitverantwortlich für den Holocaust. Trotz der pompösen Amtstitel verlor er in der polykratischen Struktur der NS-Herrschaft, in der jeder gegen jeden um Kompetenzen stritt, ständig an Einfluss. Mit Himmler und Goebbels war er leidenschaftlich verfeindet.

Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess wurde er 1946 zum Tod verurteilt und gehängt. In dem Buch von Robert K. Wittman und David Kinney wird die Biografie Rosenbergs, eines ideologischen Haupttäters, mit der Biografie der zweiten, etwas zwielichtigen Hauptfigur, Robert Kempner, vermischt. Kempner, ein deutscher Justizbeamter jüdischer Herkunft, Sozialdemokrat und früher Gegner des Nationalsozialismus, flüchtete zuerst nach Italien, dann über Frankreich in die USA. Dort versuchte er als Experte für den Nationalsozialismus eine öffentliche Position zu erlangen, war zeitweise freier Mitarbeiter des FBI.

Am 8. März 1945 eingebürgert, kehrte er mit dem US-Anklageteam zu den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen nach Europa zurück. Als Kenner des deutschen Beamtensystems und als „Meister der Selbstvermarktung“ schrieb er Berichte über Berichte. Aus den vielen Problemen des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses ragten zwei hervor: Erstens der neue Strafbestand „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, wie war der rechtstechnisch zu konkretisieren? Und zweitens die Fülle der aufgefundenen Dokumente.

Hier war Kempner in seinem Element. Er schaffte Kisten über Kisten von Dokumenten in seine private Wohnung, um sie zu sichten. Nicht alle gab er zurück, sondern ließ sie illegal, nach Ende der Prozesse, nach Amerika, in sein Haus in Lansdowne, Pennsylvania, transportieren. Darunter große Teile der Rosenberg-Papiere. Sein Motiv? Er wollte diese Quellen für eigene Publikationen nützen. Tatsächlich schrieb er fleißig, verwendete auch selektiv Rosenbergs Tagebücher. Aber wie der sprichwörtliche Drache bewachte Kempner seinen ungeordneten, in zahlreichen Kisten verpackten Dokumentenschatz. Als Kempner 1993 mit 93 Jahren starb, war unklar, wem die Schätze gehörten.

Während die Darstellung der NS-Geschichte in dem hier besprochenen Buch ziemlich trivial ist, versteht der authentische Suchbericht eine gewisse Spannung zu erzeugen und gibt Einblick in den Umgang mit NS-Quellen in Amerika. Eine Ursache für das Wirrwarr waren die komplizierten Familienverhältnisse von Robert Kempner. Er lebte in Amerika und in Deutschland mit seiner zweiten Frau Ruth, mit seiner Sekretärin Margot Lipton, die einen Sohn von ihm hatte, mit der weiteren Sekretärin und Geliebten Jane Lester. Sein erster Sohn stammte aus Kempners erster Ehe. Alle stellten gewisse Ansprüche auf das Erbe. Es gab Prozesse, die Papiere, NS-Bestände und private Korrespondenz wurden hin und her geschoben. Weitere Akteure waren der windige Theologieprofessor und Verleger Herbert Richardson und der Altwarenhändler Walt Martin. Beide besaßen Teile von Kempners Erbe. NS-Devotionalien hatten in den USA einen hohen pekuniären Wert.

Und da war das angesehene United States Holocaust Memorial Museum in Washington mit seinem Chefarchivar Henry Mayer, der an diese Papiere herankommen wollte, um diese wichtigen Dokumente sachgerecht zu lagern und zu bearbeiten. Schließlich erhielt 1999 das Holocaust Memorial Museum 85 Kisten mit Nürnberger Akten aus Klempners Nachlass. Letztlich gestohlenes Regierungseigentum: Aber es fehlten die Rosenberg-Tagebücher. Mayer ließ nicht locker und der Kriminalroman erreicht seinen Höhepunkt. Der ehemalige FBI-Agent Wittman verfolgte die vorhandenen Spuren, die zu Professor Richardson führten. Der aber mauerte und musste Schritt für Schritt eingekesselt werden, bis er die Tagebücher herausgab, 2013 konnten die Papiere dem Holocaust Memorial Museum übergeben werden.

Die Rosenberg-Tagebücher enthüllen keine Sensationen, aber sie verfeinern die historischen Kenntnisse. Sie belegten eindrucksvoll, dass die propagierte Volksgemeinschaft an der Spitze des Reiches eher eine Wolfsgemeinschaft war, in der jeder jeden biss, wenn es um Macht und Einfluss ging. Sie unterstützen die seit Jahren von der Geschichtswissenschaft ausgearbeitete These, dass von der rassistischen Propaganda kein direkter Weg zu den Genoziden führte, sondern dass, von Entscheidung zu Entscheidung, sich die Maßnahmen gegen die „Untermenschen“ radikalisierten, bis am Ende die Gaskammern errichtet wurden. ■

Robert K. Wittman und David Kinney

Die Rosenberg-Papiere

Die Suche nach den verschollenen Tagebüchern von Hitlers Chefideologen Alfred Rosenberg. Aus dem Amerikanischen von Werner Roller und Heike Schlatterer. 384 S., geb., € 20,60 (Heyne Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.10.2016)

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