Hausherr mit Faust im Nacken

Heiter bis flockig: Michael Krügers Roman „Das Irrenhaus“.

Michael Krügers namenloser,schrulliger Ich-Erzähler – bald mute ich ihm den Vornamen Archie zu – erzählt von seinem Unglück im Glück. Früher Archivar in einem Medienhaus, hat er unerwartet ein Münchner Mietshaus in bester Lage mit 16 Wohnungen geerbt, in das er selbstnach seiner Kündigung beim Verlag einzieht – ohne sich aber anderen Mietern gegenüber als Hausherr zu outen. Ein Traumziel scheint nahe: 20 Jahre hatte er alle Theorien zur Langeweile gelesen – von den alten Griechen bis zu Heidegger –,nun scheint die Zeit reif, sie endlich auch zu praktizieren: „Ein Leergelassensein vonder Welt, das wollte ich erreichen.“ Das Ziel: nicht mehr mit einer mühsam selbst gebastelten Identität in der Ellenbogenwelt herumrempeln, dem ewigen Entscheidungszwang – etwa beim Einkauf im Supermarkt – zumindest teilweise entfliehen. Einfach Ruhe haben!

Daraus wird nichts. Einige der Mieter scheinen den Pforten der Hölle entkommen zu sein und nerven ihn mit abstrusenIdeen zur persönlichen Gewinnmaximierung. Der selbst ernannte Vermögensberater Schwan mit supergünstigen Angeboten etwa. Oder der trunksüchtige Immobilienrevolutionär Netzeband, der die Neuordnung des Bestattungswesens im Kopf hat: Auflassung aller Friedhöfe zwecks Errichtung von Wohn- und Wirtschaftsbauten auf dem Gelände und im Gegenzug Totendeponierung in Urnen auf allen verfügbaren Grünflächen der Stadt, etwa Parks und Verkehrsinseln. Und Archie, der sich als „freier Philosoph“ vorstellte, solle dabei für „spirituelle Begleitung“ sorgen. Vor dem solle er sich hüten, erfährt Archie später von dessen unglücklicher Ehefrau Mira, die einer Affäre nicht abgeneigt erscheint.

Eine Ruhe bei Dionysos-Kulten?

Überhaupt Archie und die Frauen. Bald lernt er auch die Nachbarin, Studienrätin Dr. Annika Keller, näher kennen, die über „Dionysos-Kulte“ dissertiert hat. Daraus wurde übrigens ein Buch. Nicht zu Gesicht bekommt er eine Frau aus Gießen. Wohl aber viele Briefe, die, an Georg Faustgerichtet, bei ihm landen. Darin bezichtigt ihn die Furie, ihre Texte gestohlen unddamit Karriere gemacht zu haben. Sie wird die Polizei auf ihn hetzen.

Bei Faust handelt es sich um den Vormieter von Archies Wohnung – einen wegen Totschlags Vorbestraften, der sich zu einem feinfühligen Naturlyriker („Elegie auf eine Ameise“) entwickelt und sogar Preise abgestaubt hatte. Archie weiß von dessen Existenz, erhielt er doch viel Post von Verlagen, die Faust-Werke zurückschickten. So erfährt er viel über den Dichter und fantasiert bald Dialoge mit ihm – fast fühlt er sich in dessen Haut.

Besonders eng wird es, als er als Georg Faust einen Literaturpreis entgegennehmen soll. Hier nutzt Michael Krüger – lange Chef des Hanser Verlags und nun Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste – die Gelegenheit, ironisch die Literaturszene zu glossieren. Doch sein Hausherr mit Faust im Nacken, der an Wolfgang Hermanns verschrobenen Herrn Faustini erinnert, wird in diesem Haus nicht mehr glücklich und plant die Flucht. Fremd ist er eingezogen, fremdzieht er wieder aus. Der einzige Makel des Buchs: Es ist zu kurz! Hat das Haus doch 16 Wohnungen, wir erfahren aber nur von drei besonderen Exemplaren der Spezies Mensch. Da wäre noch Platz für zwölf weitere Idioten gewesen.

Empfohlene Begleitmusik beim Lesen des Buchs daher: Wilhelm Müller/ Franz Schubert: „Die Winterreise“. ■

Michael Krüger

Das Irrenhaus

Roman. 192 S., geb., € 19,90 (Haymon Verlag, Innsbruck)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.11.2016)

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