Eine Mauer aus Worten

Die Luft ist draußen in Jacobs und Julias bürgerlicher Durchschnittsehe. Sie fliehen ins Schwadronieren. Der Zerfall der Familie spiegelt sich in Jonathan Safran Foers Trennungsroman „Hier bin ich“ in fiktiver Weltgeschichte. Die Verschränkung will nicht so recht überzeugen.

Vor 15Jahren gelang JonathanSafran Foer ein „übereindruckendes“ Debüt, wie sich die Hauptfigur von „Alles ist erleuchtet“, Alexander Perchov, ausgedrückt hätte. Die tragikomische Reise des jungen Jonathan in die Ukraine lebt vom (sprachlichen) Aufeinanderprallen der sehr gegensätzlichen Vorstellungen, die sich ein junger Amerikaner über die Ukraine im Zweiten Weltkrieg macht, und von dem popkulturellen Wissen, das sein Reiseführer, Alexander, von Amerika hat. Jetzt, elf Jahre nach seinem zweiten Roman, „Extrem laut und unglaublich nah“, der Schreckensreise des neunjährigen Oscar durch das New York nach dem 11. September 2001, legt Foer seinen dritten Roman vor, ein überambitioniertes 680-Seiten-Opus, das einem einiges an Geduld abverlangt, dafür aber in etlichen Passagen mit unwiderstehlicher Komik belohnt, über weiteStrecken fantastisch geschrieben ist und jede Menge überraschender Einsichten in das Leben jüdischer Amerikaner bietet.

„Oh God said to Abraham, Kill me a son / Abe says, Man, you must be puttin me on“, sang der frischgekürte Nobelpreisträger Bob Dylan einst in „Highway 61“. Foer ist es allerdings zumeist todernst, wenn er „Hier bin ich“, die biblische Antwort Abrahams auf die göttliche Aufforderung, seinen Sohn zu opfern, auf mehreren Ebenen zum Grundthema seines Romans macht. „Hier bin ich“ meinte biblisch: „Was auch immer Gott will oder braucht, Abraham ist ganz für ihn da, ohne Vorbehalte, Bedingungen, Einschränkungen oder auch das Bedürfnis nach Erklärungen.“

„Hier bin ich“ ist zuallererst ein Trennungsroman. Jacob und Julia Bloch sind an einem kritischen Punkt ihrer Beziehung angelangt, an dem sie – unglücklich aus unterschiedlichen Gründen – auseinanderstreben und die definitive Trennung doch aus vielerlei Gründen verhindern wollen. Sie sind nicht mehr bedingungslos füreinander da und auch nicht für ihre drei Kinder, von denen sich ihr melancholischer Ältester, Sam, gerade auf seine Bar-Mizwa vorbereitet. Jacobs Großvater Isaac wird bald sterben, das Verhältnis zu seinem Vater ist wegen dessen radikaler Ansichten zur israelischen Politik angespannt. Das Paar lebt mit den Kindern und einem altersschwachen Hund ein bürgerliches Durchschnittsleben in New York.

Jacob arbeitet als Autor für Fernsehshows, Julia als Architektin: Beiden gemeinsam ist, dass sie bei Weitem nicht das erreicht haben, wovon sie in jungen Jahren geträumt haben. Jacob wurde kein Autor, Julia errichtet keine eigenen Häuser. Über die Jahre sind sie sich abhandengekommen, haben sich in ihren kleinen Fluchten und Seelenlebensfassaden gut eingerichtet, „je mehr Trost sie gemeinsam fanden, je mehr Leben sie teilten, desto stärker entfremdeten sie sich ihrem Innenleben“.

Angst, Resignation, das jahrelange Sich-Einfügen ins unvermeidlich Bürgerliche verschärfen die Brüchigkeit der Beziehungen derEheleute, und Foer beobachtet penibel und schriftstellerisch variantenreich den Prozess der Entfremdung vom anderen wie auch von sich selbst. Jacobs Unsicherheit findet ihren Ausdruck dabei in häufigen Eifersüchteleien, Julia vermisst die Erfüllung ihrer jugendlichen, halb vergessenen Sehnsüchte und beginnt einen Flirt mit einem Kunden. Die Situation eskaliert schließlich, als Julia eine Reihe sexuell expliziter SMS zu lesen bekommt, die Jacob nicht an sie gerichtet hat.

Diskussionsmanie in der Familie

Es sind letztlich Probleme, die in allen Beziehungen vorkommen, und eigentlich wären Jacob und Julia gute Kandidaten für deren gütliche Lösung, denn sie kommunizieren dauernd miteinander. Reden ist ja, wie jede angehende Schwiegermutter am Hochzeitstag rät, der Grundstein für eine gelingende Ehe. Wie in einem Woody-Allen-Film wird ohne Pause schwadroniert, philosophiert, gestritten, wird die politische Weltlage genauso analysiert wie die häusliche Misere, manchmal mit Ironie und auch weisen Einsichten, häufig aber auch ohne auf den Punkt zu kommen, ohne Pointe, oft ohne erzählerische Notwendigkeit. Irgendwann reißt sogar Jacobder Geduldsfaden, und er fordert von seinem Sohn entnervt ein Ende der Diskussionsmaniein der Familie. Dabei ist er doch selbst derjenige, der sich über Jahrzehnte die schönste Mauer aus Worten errichtet hat, hinter der er sich bestens verstecken kann.

„Hier bin ich“ entwickelt seine Erzählung zur Hauptsache in Zwiegesprächen – und das ist letztlich auch seine größte Schwäche. Reden wird nicht selten zum Zerreden, und die Figurenreden leiden an „Dialogitis“, die in der amerikanischen Literatur leider gar nicht so selten vorkommt. Natürlich wird dabei von Ängsten, Wünschen, Befindlichkeiten der einzelnen Familienmitglieder erzählt, aber die Ausführlichkeit und Redundanz, mit der dies geschieht, erweckt allzu oft die Sehnsucht nach einem Lektor, der ordentlich kürzend eingegriffen oder manches verdichtet hätte.

Im Hintergrund der zahlreichen Debatten, die die Familienmitglieder führen, dringt eine fiktive Weltgeschichte und Weltpolitik mit Vehemenz in die häusliche Krise: Ein Erdbeben zerstört große Teile Israels, und seine Feinde fühlen sich ermutigt, den letzten kriegerischen Schlag zu führen. Israels Premier ruft daraufhin die in der Diaspora lebenden, im Besonderen aber die amerikanischen Juden auf, nach Israel zu kommen und den Feind zurückzuschlagen. Wieder steht Jacob vor der Frage, wohin man als Judegehört und ob man bereit ist, das letzte Opfer zu bringen, „hier bin ich“ zu sagen. Der Zerfall seiner Familie spiegelt sich gewissermaßen in weltgeschichtlichen Zusammenhängen wider, die jüdische Diaspora steht für die Familie Bloch als bedrohliches Modell einer unerwünschten familiären Zukunft. Als Lesersteht man diesem apokalyptischen Hintergrundszenario aber ziemlich ratlos gegenüber, die Verschränkung von Welt- und Familiengeschichte will auch sprachlich einfach nicht so recht gelingen.

Am Ende steht die Scheidung: Doch wie Israel im Krieg nicht untergeht, scheint es auch für Blochs glimpflich auszugehen. Die Ankunft Jacobs in seinem neuen Domizil erscheint als Akzeptanz des Unvermeidlichen und eröffnet neue Perspektiven. Jacob kann sich endgültig nicht mehr selbst beim Verschwinden zuschauen, nicht mehr einem Leben nachhängen, das er abgehängt hatte. Ein chassidisches Sprichwort wird am Beginn des Romans zitiert: „Die Suche nach dem Glück ist die Flucht vor der Zufriedenheit.“ Im Fall Jacobs führt die Flucht ins Ungewisse zumindest zu einer bemerkenswerten Erkenntnis: „Das Leben ist kostbar, dachte Jacob, das ist der wichtigste und offensichtlichste Gedanke überhaupt und gleichzeitig entgleitet er einem am schnellsten. Mein Leben wäre ganz anders verlaufen, wenn ich auf diesen Gedanken gekommen wäre, bevor ich darauf gestoßen wurde.“ ■

Jonathan Safran Foer

Hier bin ich

Roman. Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens. 688 S., geb., € 26,80 (Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.11.2016)

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