Was ich lese

Intendant des ORF-Radiosymphonieorchesters

[ Foto: Stefan Joham]

Juli Zeh begleitet mich seit vielen Jahren. Nach ihrem entschlossenen und fachkundigen Auftreten in der NSA-Affäre lese ich nicht nur ihre Romane und Erzählungen, sondern auch ihre politischen Stellungnahmen.

Ihr kraftvoller Debütroman Adler und Engel war in der Stadt ersonnen, Unterleuten (beide Schöffling Verlag, Frankfurt/Main) schrieb sie in der ost-ostdeutschen Provinz. Diese ist zugleich das Thema des Romans. In „Unterleuten“, so das Credo der Dorfbewohner, regelt man die Dinge unter sich. Was aber, wenn alle Wunden auf einmal aufbrechen, wenn die Konflikte zwischen den Zugezogenen aus der Hauptstadt und den hier Geborenen, zwischen Wendegewinnern und Wendeverlierern gleichzeitig eskalieren, weil der Bau von Windrädern die dörfliche Idylle aufmischt?

Juli Zeh hat einen Unterhaltungsroman amerikanischen Ausmaßes geschrieben; der Nachname der zielstrebigen Linda Franzen ist eine Verbeugung vor dem Mann, dessen Roman „Die Korrekturen“ (Rowohlt Verlag, Reinbek) ein Meisterwerk der klugen und mitreißenden Literatur ist. Der Kunstgriff der Autorin: Jedes Kapitel erzählt aus der Sicht eines Dorfbewohners.

Wer eben noch vom Nachbarn denunziert wurde, rückt selbst ein Kapitel später das Zerrbild gerade. Wir gewinnen die Figuren dadurch nicht lieb – Juli Zeh gibt ihre leicht spöttische Erzählperspektive nie aus der Hand –, aber wir lernen sie und ihre Überlebenskunst zu respektieren. Der Roman „Unterleuten“ hat michmehrfach in der Öffentlichkeit zu lautem Gelächter angeregt. Es ist ein wunderbares Buch. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.12.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.