Mehr als ein „Hitler light“

Vom Redakteur zum „Duce“: In „Mussolini“ beschreibt der Italien-Spezialist Hans Woller lakonisch den Aufstieg eines karrieregeilen Provinzlers an die Spitze des Staates. Er wollte aus Italienern „Römer der Moderne“ machen.

Zu meinem seinerzeitigen Seminar über „Schmutzige Kolonialkriege nach 1918“ stießen zwei italienische Studentinnen. Bei der Diskussion der barbarischen Akte italienischer Soldaten an Äthiopiern, frenetisch unterstützt von muslimischen Freiwilligen gegen die dortigen Urchristen, gerieten sie in eine Schockstarre: „Das haben wir nicht gewusst!“ Wie auch? Italiens koloniale Vergangenheit vergilbt in Archiven, während ihr Dominus, Benito Mussolini, immer noch Ansehen genießt. Im schlimmsten Fall stuft man ihn als „Hitler light“ ein. Hans Woller setzt dem resolut die historischen Fakten entgegen. Deutschlands präzisester Kenner des modernen Italien handelt den Fall Mussolini lakonisch und doch elegant ab, die Thematik in die Chronologie einbindend, in souveräner Archiv- und Literaturübersicht.

In die Wiege war dem aufstiegshungrigen Provinzler aus der Emilia Romagna, dessen Ehrgeiz sich vorerst nur im Anarchosozialismus entfalten konnte, eine solche Karriere nicht gelegt. Angesichts Italiens Angriffs gegen Libyen 1911 half er sogar, Streiks dagegen zu organisieren. Erst der Eintritt in den Ersten Weltkrieg 1915 gegen Österreich verwandelte ihn in einen fanatischen Kriegsgott, der sein angeblich müßiggängerisches Volk aufrütteln, stählen und disziplinieren wollte.

Künstlerisch von den maschinenbegeisterten Futuristen inspiriert, stampfte er das System des italienischen Faschismus aus dem nihilistischen Boden. Persönlich ein Faun, seiner „sexuellen Bulimie“ bis zum Schluss frönend, privat verbürgerlicht dank der jüdischen Vertrauten Margherita Sarfatti, begann er seinen faschistischen Traum eines homogenen, heroischen und expansiven Italien zu träumen, um mit den Großmächten gleichziehen zu können.

Dafür sollten die Italiener – Männer natürlich, Frauen hatten Kinder zu gebären – zu „Römern der Moderne“ geformt und in eine homogene Volksgemeinschaft verdichtet werden, um auf dem Weg einer kriegerischen Expansion Ruhm zu ernten und Lebensraum im Süden zu erobern. Was Hitler im Osten suchte, fand Mussolini in seinem „Italia Africana“: ein Weltreich von Libyen über Somalia bis Äthiopien, später erweitert um Albanien und Griechenland. Zumindest eine Ablasssünde: In Somalia und Eritrea wurde erstaunlich viel und gut in Art déco gebaut. Im März 1937, bei einem Besuch der aufregenden römischen Ausgrabungen in Libyen, ließ Mussolini sich großsprecherisch zum Schirmherrn des Islam ausrufen! Für all diesen kolonialen Wahn brauchte Mussolini die Achse mit Nazideutschland, weswegen die alternative Option eines unabhängigen – protofaschistischen – Österreich 1936 ohne Wimpernzucken fallen gelassen wurde.

Mussolini verfolgte seinen „spazio vitale“ mit einer Härte, die Hitlers Ausrottungspolitik im Osten eher noch übertraf, zum Beispiel mit massivem Giftgaseinsatz. Farbige sollten überhaupt verschwinden. Dass italienische Kolonisten (darunter Südtiroler), allen Warnungen zum Trotz, mit afrikanischen Frauen eheähnliche Beziehungen eingingen, konnte Mussolini zur Weißglut treiben. „So würde die ganze weiße Rasse verloren gehen!“ In einem dieser Ausbrüche verfügte der Duce am 18. Juni 1938 die Ausweisung der etwa einhundert damals legal in Italien lebenden Afrikaner – angesichts des heutigen Dammbruchs mit Hunderttausenden schwarzafrikanischer Boat People eine ironische Erinnerung. Es sollte eben nichts die These verunsichern, nach der die italienischen Landsleute „Arier mediterranen Typs“ seien. Mussolinis rassistischer Kolonialismus war grausam. Indes, im Land durfte gesellschaftlich und kulturell vorerst viel Bürgerliches bleiben. Juden überlebten. In dieser Hinsicht lässt sich tatsächlich von einem „Hitler light“ sprechen.

Alles änderte sich 1943 mit Italiens Kapitulation, wogegen Mussolini sich im norditalienischen Saló, umgeben von vor Hass glühenden Jungfaschisten, einkapselte, um „zu den sozialrevolutionären Wurzeln zurückzukehren“. Während einerseits seine „Republica Sociale Italiana“ den Transport von rund 600.000 Soldaten der verwirrten italienischenArmee als Arbeitssklaven nach Norden hinnehmen musste, identifizierte Mussolini sichandererseits zum ersten Mal voll mit Hitler und ließ alle Gespenster der Apokalypse los, gegen Liberale, Bürgerliche, Monarchisten, Kommunisten und „Verräter“ aller Art. Sogar Schwiegersohn Galeazzo Ciano musste über die Klinge springen. Überlebende Judenwurden an die Gestapo übergeben. Gegen Mitglieder der Saló-Regierung entfachte die „Resistenza“ wiederum eine erbarmungsloseGewaltantwort.

Schließlich das schauerliche Ende am 29. April 1945: Mussolini, zusammen mit seiner letzten Geliebten, Claretta Petacci, beide tags zuvor von kommunistischen Partisanen hingerichtet, kopfüber aufgehängt auf Fleischerhaken auf der Piazzale Loreto von Mailand. Umrankt vom gesetzlosen Füsilieren Tausender faschistischer Funktionäre, trat Italien – sozusagen befreit von den Verstrickungen des Faschismus – in die Nachkriegszeit und in das Heute ein. Einer weiteren Entzauberung des faschistischen Diktators bedurfte es nicht mehr. Auch Kriegsgräuel spielten keine Rolle mehr. Italien kam ohne jede Anklage auf Kriegsverbrechen durch. Eine kollektive Amnesie griff um sich. Nur Publizisten streiten sich mit Renzo De Felice, Chefhistoriker des Faschismus, um die rechte oder linke Einordnung des historischen Phänomens.

Die Gefahr einer Renaissance des italienischen Faschismus heute, urteilt HansWoller faktisch, ist gering – Italiener haben ja auch mit ganz anderen Problemen (bei diffusen Antworten) zu tun. ■

Hans Woller

Mussolini

Der erste Faschist. Eine Biografie. 398 S., 27 Abb., geb., € 27,80 (C. H. Beck Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.12.2016)

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