In Bausch und Bogen

Neu aufgelegt und falsch ediert: Elisabeth Freundlichs erschütternder Bericht über die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Galiziens – anhand des „Blutsonntags“ im Oktober 1941 in der Stadt Stanislau.

Vor 30 Jahren, als sie 80 wurde, veröffentlichte Elisabeth Freundlich gleich drei Bücher: einen Familienroman, einen Erzählband undeinen historischen Bericht. Die Erzählungen, unter dem Titel „Finstere Zeiten“ im tapferen kleinen Persona Verlag erschienen, sind noch lieferbar, die beiden anderen Bücher schon lange vergriffen. Erfreulich, dass immerhin der erschütternde Bericht über „Die Ermordung einer Stadt namens Stanislau“ neu herausgegeben wurde. Darin geht es um die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung jener ostgalizischen Stadt,die 1962, in Sowjetzeiten, den Namen des sozialistischen Autors Iwan Franko erhielt. Iwano-Frankiwsk, so heißt sie noch immer, was bei den politischen Zustände in der heutigen Ukraine fast verwundert.

Im Vorwort hat Freundlich ihr Werk als „Textbuch der Unmenschlichkeit“ bezeichnet, weil es sich auf viele schriftliche wie mündliche Quellen stützt, die unter anderem in zwei Prozessen gegen Angehörige der Gestapo-Dienststelle Stanislau erhoben wurden. Eines der beiden Verfahren, das 1966 in Salzburg und Wien geführt worden war, hatte Freundlich für „Die Gemeinde“, das Organ der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien, verfolgt, dann zur Grundlage einer Reihe von Schulfunksendungen des ORF genommen, aus denen schließlich, ein paar Jahre später, das vorliegende Buch entstand. Der langwierige Entstehungsprozess ist ihm allerdings nicht anzumerken, wohl aber die Trauer über das Schweigen, das letztlich auch bewirkt hat, dass „Die Ermordung einer Stadt namens Stanislau“ – wie alle anderen Prosastücke dieser bedeutenden und gewissenhaften Autorin – kaum zur Kenntnis genommen wurde. „Man spricht nicht vom Gewesenen“, schreibt Freundlich gegen Ende ihres Berichts. „Man wünscht es weder selbst zu überliefern,noch dass andere es überliefern, noch dass es Jüngeren überliefert wird.“

Es fällt schwer, über den Holocaust zu schreiben. Zum einen, weil sich in der Regel mehr über die Mörder in Erfahrung bringen lässt als über die Ermordeten, vor allem, wenn diese – wie so oft im Fall Stanislau – arm, also auch ohne Besitz an geistigen Gütern waren. Zweitens wegen des numerischen Missverhältnisses zwischen den Opfern und den Tätern: Das Massaker vom 12. Oktober 1941, dem „Blutsonntag“, an dem binnen weniger Stunden auf dem alten jüdischen Friedhof von Stanislau 12.000 oder mehr Menschen hingemetzelt wurden, haben ein paar Dutzend SS-Männer, Angehörige der Bahnpolizei, der Gendarmerie und des in der Stadt stationierten Polizeireservebataillons 133 unter Mithilfe der ukrainischen Miliz vollbracht. Ungewollt werden sie, die Wenigen, deshalb ins Zentrum gerückt und die Vorfälle meist aus ihrem Blickwinkel geschildert. Drittens scheinen Verbrechen solchen Ausmaßes auch eine heimliche Faszination auszuüben, der sogar seriöse Historiker bisweilen erliegen.

Es spricht für Freundlich, dass ihre Arbeit über all diese Gefahren erhaben ist. Sie schreibt anschaulich, unprätentiös und mit verhaltener Eleganz. Verhalten, weil ein Zuviel an sprachlicher Schönheit dem berichteten Leid nicht angemessen wäre. Obwohl ihre Chronik ohne Vorwissen gelesen werden kann, bietet sie auch dem fachkundigen Publikum viel Neues – noch heute, da das ehemalige Galizien nicht mehr, wie zur Zeit der Niederschrift, im Westen unbekannt ist.

Neben der moralischen Integrität und kompositorischen Sorgfalt besticht das Buch durch die Fähigkeit der Autorin, den Einzelfall im Kontext der NS-Vernichtungspolitik darzustellen und die Verbrechen bis in die Gegenwart zu verfolgen. Ihr ging es dabei auch um den Schmerz der Überlebenden, die vor Gericht unter der Last ihrer Erinnerungen zusammenbrachen, was den Verteidigern der Angeklagten ein willkommener Anlass war, den Wahrheitsgehalt der Aussagen anzuzweifeln. Sie zitiert einen Zeugen: „Man verlangt von uns, dass wir, wenn wir dabei gewesen sein wollen, alles gesehen und gehört haben müssen. Dabei waren wir von Angst und Schrecken nahezu gelähmt, unsere Sinne nahmen kaum etwas wahr. Man fordert von uns, die Stunde, den Tag zu nennen, aber wir besaßen im Lager keine Uhr, keinen Kalender, wir wussten oft nicht einmal, ob es ein Sonn- oder Feiertag war. Wir sollen das Aussehen unserer Henker beschreiben. In ihren Uniformen sahen sie aber für uns alle gleich aus. Wenn wir uns dann in einem Punkt irren, werden unsere Aussagen in Bausch und Bogen abgetan.“

Zwei Nachworte und seltsam wirre Äußerungen des heutigen Rabbiners von Iwano-Frankiwsk, Moyshe-Leib Kolesnik, im Gespräch mit dem Herausgeber Paul Rosdy ergänzen diesen eindringlichen Bericht. Das erste Nachwort stammt von der Schriftstellerin Susanne Alge, die 1992 Freundlichs Erinnerungen, „Die fahrenden Jahre“, herausgegeben hatte. Es ist informativ und verleugnet nicht die Sympathie, die Alge für ihre ältere Kollegin empfunden hat. Dagegen ist das zweite Nachwort nur insofern von Interesse, als es die Ressentiments seines Verfassers, des ukrainischen Historikers Jaroslaw Hryzak, gegenüber der Autorin zeigt.

Hryzak weiß von Freundlich nur das, was er in Wikipedia über sie fand. Ungehalten darüber, dass sie ukrainische Nationalisten so darstellt, wie sie großteils leider gewesen sind, nämlich als Nazikollaborateure, versucht er Freundlich zu delegitimieren: weil sie Antifaschistin war, was für ihn sowjetfreundlich bedeutet, und als Österreicherin, deren Landsleute sich dank der Moskauer Deklaration von 1943 vor der Verantwortung für die NS-Verbrechen gedrückt hätten.

Er konstruiert einen schroffen Gegensatz zwischen westdeutscher „Erinnerungskultur“ und österreichischem Geschichtsschwindel. Offenbar hat er Freundlichs Bericht nicht wirklich gelesen, sonst wäre ihm aufgefallen, dass viele Judenmörder in der BRD ihre Karriere fortgesetzt und allerlei Orden und Verdienstkreuze bekommen haben. Die sachlichen Irrtümer, die er Freundlich vorwirft, sind dem Wissensstand der 1980er-Jahre geschuldet und hätten sich mit ein paar Fußnoten leicht korrigieren lassen. So aber liegt eine Edition vor, mit der die Autorin verhöhnt und ihr Werk für obsolet erklärt wird. Die Verantwortung dafür tragen Herausgeber und Verlag zu gleichen Teilen. ■

Elisabeth Freundlich

Die Ermordung einer Stadt namens Stanislau
NS-Vernichtungspolitik in Polen 1939–1945. 316 S., brosch., € 24 (Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.12.2016)

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