Wege zum Unterleib

Literarische Mischtechnik: Peter Sloterdijks „Schelling-Projekt“ ist eine selbstironische Satire auf den Wissenschaftsbetrieb und eine erstaunlich konservative Kulturkritik. Ein intimes Bekenntnis.

Auf den ersten Blick ist der Titel von Sloterdijks neuestem Buch irreführend. Wer erwartet, dass der unterhaltsame Philosoph aus Karlsruhe nun etwas Monographisches zum ewigen Geheimtipp des deutschen Idealismus vorgelegt hat, der sieht sich schon nach wenigen Seiten ge- und enttäuscht. Ganz unberechtigt ist eine solche Erwartung nicht, mehren sich, etwa in den USA, doch die Anzeichen einer neuerlichen Renaissance des deutschen Idealismus, in deren Zentrum freilich abermals Hegel steht,ebenjener Denker, für Sloterdijk ein Philosoph, der im Unterschied zu Schelling am Unterleib vorbeiphilosophiert hat.

Was ist die Thematik von Sloterdijks Buch? Vordergründig und zunächst einmal ist es eine selbstironisch ausgelegte Satire auf den akademischen Betrieb und seine konformistischen Forschungsprogramme, die den Geist in akademische Flaschen zu ziehen bestrebt sind: Eine Gruppe von in die Jahre gekommenen Intellektuellen, Frauen und Männern, unternimmt den Versuch, ein völlig aussichtsloses Forschungsprojekt bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterzubringen, wobei dessen umständlich-sperriger Titel unvermeidlich Gelächter beim Leser hervorruft: „Zwischen Biologie und Humanwissenschaften: Zum Problem der Entfaltung luxurierender weiblicher Sexualität auf dem Weg vom Hominiden-Weibchen zu den Homo-sapiens-Frauen aus evolutionstheoretischer Sicht mit ständiger Rücksicht auf die Naturphilosophie des Deutschen Idealismus.“

Die Forschungssatire bildet indes den Vorwand für einen Rückblick auf die intellektuelle und erotische Sozialisation nach 1968. Diese wird in dem digitalen Briefroman durch eine Gruppe befreundeter Männer und Frauen plastisch sichtbar. Das Buch, eine Hybride aus Literatur und Philosophie, führt ein Maskenspiel vor, innerhalb dessen der als Peer Sloterdijk firmierende Autor und seine Mitstreiter beiderlei Geschlechts mit obszöner Leichtigkeit agieren, als wär's ein Stück von Diderot oder Choderlos de Laclos. Die Figuren, Handpuppen des Autors, die zugleich auf seine persönliche Umgebung verweisen, erzeugen ein zuweilen amüsantes Geflecht von autobiografischen Anspielungen. So heißt die Wiener Projektmitarbeiterin Desiree zur Lippe, selbst Peter Weibel bekommt einen kurzen Namensauftritt, und aus dem Jenseits meldet sich der verstorbene Nicolaus Sombart, Erbe eines großen Namens, zu Wort und drängt die Gruppe komisch-pathetisch, das Schelling-Projekt trotz abschlägigen Bescheids fortzuführen.

„Das Schelling-Projekt“ ist ein wehmütig-ironischer Abgesang auf eine Generation in Berlin und München-Schwabing, die für die heute 20- und 30-Jährigen gründlich historisch geworden ist. In dem E-Mail-Verkehr entspinnen sich Erinnerungen an die erotischen Entgrenzungserfahrungen von einst, als Mann und Frau unter Anleitung einer raffinierten Tantristin kollektiv die einschlägigen Techniken eines perfekten weiblichen Orgasmus einzuüben trachteten. Mit leichter Hand sprechen die freien, an Nietzsche, Spätaufklärung und 1968 geschulten Geister über ihre sexuellen Freuden, Begierden und Nöte damals und jetzt. Zuweilen entgleist die Metaphorik der freien Geister, etwa, wenneine der beiden E-Mail-Schreiberinnen über ihre sexuelle Erregtheit protokollarisch festhält: „In Wirklichkeit tropfte ich doch schon wie ein Kieslaster.“

Das akademisch aussichtslose Projekt misst noch einmal die sexuelle Experimentierfreude einer ganzen Generation aus, die Subjektivität neu erfindet und in den 1980er-Jahren in Abgrenzung von Marx und Hegel den indischen Tantrismus eines Bhagwan mitsamt Heidegger und Nietzsche neu entdeckt. Insofern lässt sich das Buch als Schlüsseltext zum Verständnis des Projekts Sloterdijk lesen. Was dessen Alter Ego Peer über den Meister von Meßkirch oder auch über Nietzsche äußert, das klingt salopp und gescheit, ein Stück intellektueller Selbstbiografie. Im langen Eingangs-E-Mail kommt Heideggers problematische Sprache ebenso zu Wort wie seine Bedeutung als Kritiker des okzidentalen Denkens, dessen Philosophie der Projektleiter in dem literarischen Vexierspiegel frivol fortführt. Auch die indische Bildungsreise des Protagonisten wird in diesem Sinn positiv gewürdigt, als die Bedingung der Möglichkeit, den Zentren des westlichen Denkens, Pragmatismus, Hegel, aber auch der Dekonstruktion zugunsten einer spielerischen, erotisch getönten Lebens- und Naturphilosophie zu entkommen. Nietzsche, dessen Akrobatik bereits Hermann Bahr bewundert hat, spielt dabei als „Denker auf der Bühne“ (Sloterdijk) eine ganz entscheidende Rolle: Die spielerischen Gesten setzen Freude am Obszönen und Irritation frei.

Fröhliche Leichtigkeit des Seins meldet sich zu Wort, bei der offenbleibt, wie ernst das Gesagte genommen werden will und soll,weil es stets unter der Regie des Uneigentlichen steht: Damit befinden wir uns im Zentrum des Schreibstils des Philosophen. Es ist die Akrobatik, die Begriffe nicht ohne Bilder denken kann und möchte. Sie macht die Anziehungskraft und die Problematik des intellektuellen Kosmos von Sloterdijk aus.

Das „Schelling-Projekt“ ist keineswegs nur ein Stück fein gesponnener Selbstironie. Dahinter lugt letztlich ein Lebensbekenntnis hervor. Schellings Naturphilosophie wird als Beitrag zu einer anderen, erotischen Evolutionstheorie neu gedeutet: Dessen Idee einer selbstproduktiven Natur lässt sich demnach als ein interpretativer Rahmen zum Verständnis weiblicher Sexualität begreifen. Mit diesem kosmischen „Essentialismus“ steht Sloterdijk freilich – wissentlich – quer zum Zeitgeist, aber dieser Anachronismus ist es, was den Autor des Schelling-Projekts reizt. An einer Stelle wird die Möglichkeit erwogen, dass das Denken wieder das Weiblichste des Weiblichen, das Matriarchat, zu entdecken vermöchte. Das Schelling-Projekt ist eine listige Intervention gegen den Zeitgeist. Wenngleich Schellings Philosophie und Leben über weite Strecken als scheinbare Nebensache vorkommen, wird seine Figur präsent, eben durch das vergebliche Forschungsprojekt von Peer, Kurt, Beatrice, Desiree und Guido, Spielfiguren und Wegbegleitern des Autors. Was die Doubles verbindet, das sind erotischer Leichtsinn, Freude am Wortspiel, ein Schuss Boheme-Attitüde, versetzt mit einer erstaunlich konservativen Kulturkritik. Romantik, Indien und Nietzsche.

So meint der Radioredakteur Kurt, ein weiteres Alter Ego des Autors, Novalis kalauernd: „Zum Unterleib führt der geheimnisvolle Weg. Klar, die Materie hat ein Innen.“ Von einem vermeintlichen Nebeneingang aus nähert sich die scheinbar mit leichter Hand hingeworfene epische Miniatur mit ihrem kosmogonischen Eros jenem Denkgebäude, in dem Rundungen und Blasen eine prominente Rolle spielen. Mit den frühen deutschen Kulturwissenschaften der 1980er-Jahre hat Sloterdijk eine anthropologische Obsession gemein, die hier selbstironisch als intimes Bekenntnis vorgeführt wird. ■

Peter Sloterdijk

Das Schelling-Projekt

250 S., geb., € 25,70 (Suhrkamp Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.12.2016)

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