Ich grenz noch an ein Wort

Hans Höller und Arturo Larcati über Ingeborg Bachmanns Reise nach Prag im kalten Jänner 1964. Die Spurensuche ermöglicht eine Annäherung an das lyrische Spätwerk der Dichterin.

Es gibt sie, Bücher, die einem vom ersten Satz an sympathisch sind. „Ingeborg Bachmanns Winterreise nach Prag“ ist ein solches, geschrieben von zwei germanistischen Gelehrten, die nicht nur kenntnisreich, sondern auch einfühlsam schreiben können, was keine Selbstverständlichkeit ist.

Hans Höller und Arturo Larcati haben sich vor geraumer Zeit vorgenommen, eine Spur aufzunehmen. Ingeborg Bachmann und ihr um erhebliche Jahre jüngerer Begleiter, Adolf Opel, damals Publizist und Kritiker, später Theaterschriftsteller, Drehbuchautor und Herausgeber der Schriften von Adolf und Lina Loos, haben sie gelegt – nach Prag im Jänner 1964 und zu einem kleinen Gedichtkorpus, zu dem auch eines ihrer bekanntesten Gedichte – unsere Autoren meinen sogar: ihr bestes – gehört: „Böhmen liegt am Meer“. Eine Prag- und Shakespeare-Hommage, zudem für Bachmann damals ein Lebensanker in ihrer schweren Krise nach der Trennung von Max Frisch: „Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land, / ich grenz, wie wenig auch, an alles immer mehr“ – ein Rätselwort, das auch den Bildkünstler Anselm Kiefer umgetrieben hat, wie dieses Buch dokumentiert.

Überhaupt ermöglicht Höllers und Larcatis Annäherung an das lyrische Spätwerk Bachmanns, das sie in sieben übersichtlich strukturierten Kapiteln in seinem biografischen Zusammenhang vorstellen, auch dem wenig eingeweihten Leser, das „Erlebnis“ dieses siebenteiligen Zyklus zu erschließen. Eingangs kommentieren sie die Gedichte „Enigma“, „Prag Jänner 64“, „Böhmen liegt am Meer“, „Wenzelsplatz“, „Jüdischer Friedhof“, „Poliklinik Prag“ und „Heimkehr über Prag“ ebenso behutsam wie informativ, um dann zu Interpretationen überzugehen. Genauer gesagt: Sie liefern das poetische und lebensgeschichtliche Material, um es dann mit ihrer Deutung dieser Gedichte zu verbinden.

Man spürt beim Lesen, dieser kleine Zyklus hat beide Autoren nicht losgelassen. Sie wollten durch ihre Interpretation diesen Zyklus erschließen, aber nicht, um ihn danach ad acta zu legen, sie belassen ihn deutungsoffen. Zudem liefern sie ein methodisches Nachwort, auf das dann noch eine Schlussbemerkung folgt, in der es ihnen gelingt, die einzige Kritik, die einem beim Lesen in den Sinn kommen könnte, sogleich zu entkräften. Es finden sich nämlich zahlreiche Wiederholungen in diesem Text, die aber seltsamerweise nicht stören, was daran liegt, dass sie leichte und leise Variationen enthalten. Dazu die Autoren: „In unserer Darstellung wiederholen sich, nicht oft und nicht nur unbewusst, einige Zitate. Wir haben sie nicht gestrichen, weil sich in der Wiederholung zeigt, wie sprachliche Bilder oder Motive in anderen Zusammenhängen andere Bedeutungen enthalten.“

Es folgt eine Erklärung hinsichtlich der eigenwilligen Zeitstruktur in ihrer Darstellung, die aber gleichfalls überzeugt: „Auch der Gebrauch der Zeiten, von Perfekt, Imperfekt und Präsens, ist in unserer Darstellung nicht stringent vereinheitlicht. Wir haben eine striktere Regelung der Zeitordnung versucht, sind dabei aber auf die Besonderheit des grammatischen Tempus verwiesen worden, das nicht nur eine zeitliche Bedeutung hat, sondern auch eine modale, also mit Nähe und Abstand und mit emotionaler Beteiligung zu tun hat.“

Notwendigkeit der Kunst im Leben

Das Nachwort sollte die literaturwissenschaftliche Zunft auf ihre Fahnen schreiben, wenn sie sich wieder einmal fragen sollte, wie es um ihre „gesellschaftliche Relevanz“ bestellt sei. „Die Frage nach der (lang von ihr verpönten, Anm.) Beziehung von Leben und Werk ist jeder theoretischen Anstrengung wert, denn es geht hier um die Frage der Notwendigkeit der Kunst im Leben.“

Auch dokumentarisch leistet dieses Buch Wichtiges, womit ich nicht nur die Kommentare meine und das aufbereitete Material, sondern ein ganzes Kapitel, das siebente, die Art betreffend, wie „Böhmen liegt am Meer“ aufgenommen worden ist, dieses ikonische Gedicht mit der verwirrenden Titelzeile aus dem „Wintermärchen“.

Wir erfahren nicht nur, dass Bachmann selbst zu ihm „stand“ wie zu keinem ihrer anderen Gedichte, sondern lesen von Thomas Bernhards Arbeit mit Bachmanns Motiven in der Auslöschung, von Anselm Kiefers erwähnter Faszination von dieser Dichtung, von Thomas Larchers Vertonung und von Gertraude Stügers Installation zu diesem Gedicht. Ob sich alle sieben Gedichte als Zyklus im Sinne der Schubert/Müller'schen „Winterreise“ vertonen ließen, sei dahingestellt. „Du sollst ja nicht weinen, / sagt eine Musik“, heißt es im Hans Werner Henze gewidmeten Gedicht „Enigma“ und: „Nichts mehr wird kommen.“

Bachmann hat im kalten, unwirtlichen Prag im Jänner 1964 nicht viel gesehen und gehört, natürlich nicht annähernd so viel wie in Rom oder Wien oder Berlin. Ähnlich wenig wie sonst nur in London. Aber sie hat Markantes aufgenommen und lyrisch verwandelt: die unheimliche Stimmung dort („Prag Jänner 64“), die Verschlossenheit des öffentlichen Raums („Wenzelsplatz“), die Mühe, im „Steinwald“ zu trauern („Jüdischer Friedhof“, wo sie mit Opel Blumen auf dem Grab Kafkas niederlegte). Sie ruft sie auf, die Gemeinschaft der Kranken („Poliklinik Prag“), die Idee der „Heimkehr“ über Friedhöfe. Und dann geschah ihr das Unverhoffte, so sah es Bachmann ja auch selbst: Das große Gedicht gelingt, „Böhmen liegt am Meer“, ihr Beitrag zum Shakespeare-Jahr 1964, das im Shakespeare-Jahr 2016 viel zu wenig zitiert wurde.

Von Thomas Kling stammt das harsche Urteil: „Ingeborg Bachmann konnte und konnte keine übers Mittelmaß hinausreichenden Gedichte schreiben, ich stehe mit meinem Urteil nicht allein. Eine kleine, gehypte Dichterin.“ Er sah in ihr in erster Linie die große Prosaautorin: „Lest ihre Prosa; mit wem sie wann schlief, dass sie nach drei Bissen wieder rauchte, sodann ihre Kippe im Spiegelei ausdrückte – vergesst das, lest ihre Schriften.“ Kannte Kling „Böhmen liegt am Meer“? Vielleicht selbst er nicht gut genug.

Die Schlussbemerkung ist sehr persönlich gehalten; die Autoren nennen ihre Freundschaft als Katalysator für diese berührende Arbeit. So darf auch ich persönlich schließen. Ich konnte dieses feinsinnig ergreifende Buch nicht aus der Hand legen, las es in einem Zug, am 11. November, als mich in den Abendstunden die Nachricht vom Tod Ilse Aichingers erreichte, der einst engen Freundin Bachmanns und stillen Rivalin. Nun sind sie beide „Vagant, der nichts hat, den nichts hält“, nur unser Nachlesen, Nachempfinden, immer auf der Spur zu Nach-Worten, wohl wissend: „Es kommen härtere Tage.“

Solange Germanisten solche Bücher zu schreiben verstehen, braucht es uns um die Zukunft der Zunft nicht bange zu sein.

Hans Höller, Arturo Larcati
Ingeborg Bachmanns Winterreise nach Prag
Die Geschichte von „Böhmen liegt am Meer“. 176 S., geb., € 18,50 (Piper Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.12.2016)

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