Ein blauer Ring für Brot und Speck

Unangestrengte Schönheit: Iris Wolffs kunstvoll miteinander verwobene Erzählungen.

Peter Handke nannte die autobiografischen Romane des 1998 verstorbenen Hermann Lenz einen „poetischen Geschichtsunterricht“, und mit allen guten Gründen ließe sich dieses Attribut auch auf Iris Wolffs neuen Roman anwenden.

Wolff, 1977 im siebenbürgischen Hermannstadt geboren und heute in Freiburg lebend, breitet in „So tun, als ob es regnet“ (dem nicht zufällig ein Hermann-Lenz-Motto vorangestellt ist) ein Panorama aus, das fast das ganze 20. Jahrhundert umfasst. 1916 mit Weltkriegskämpfen in den Südkarpaten einsetzend und auf der Aussteigerinsel La Gomera endend, durchläuft das Buch in vier, durch Figuren und Themen unaufdringlich miteinander verwobenen Erzählungen die schicksalshaften Umbrüche im Leben von Menschen, die den geschichtlichen Desastern nicht entkommen können und gleichzeitig nach Auswegen, nach Zufluchten suchen.

Im Mittelpunkt steht die 1918 geborene Henriette, eine unkonventionelle, unstete, bildschöne Frau, die sich 1945 vor den Russen in den Bergen versteckt und bis ins hohe Alter ihre ganz eigenen Wege geht. Schon als Mädchen zieht es sie nachts zu den Männerrunden ihres unter Schlaflosigkeit leidenden Großvaters, und bald erkennt sie, dass sie die Enge ihres Dorfes in Siebenbürgern nicht erträgt. Sie wird, ohne auf ihren Sohn Vicco Rücksicht zu nehmen, nach Bukarest und dann als Fotografin nach Berlin ziehen, immer auf der Suche nach einem Ruhepunkt im Leben und immer von ihr erliegenden Männern umgeben.

Ganz aus der Zeit stehlen

Bei allem Tatendrang freilich ist Henriette auch eine verschlossene Frau, die sich vor den Übergriffen des Lebens zu schützen weiß. Dann stiehlt sie sich „ganz aus der Zeit“ und aus allen Räumen: „Se face că plouă“, so tun, als ob es regnet, nannte ihre Mutter diese Abwesenheit, die sich immer einstellte, wenn Henriette etwas langweilte oder sehr beschäftigte – eine Wesensart, die sich auf Henriettes Enkelin überträgt.

In Iris Wolffs kunstvoll gebautem Roman einer Familie passiert einiges. Kriegstod, Selbstmord, Deportation nach Russland, Verschleppung ins Securitate-Gefängnis – kein Schrecken wird ausgespart, und dennoch waltet in diesem grandiosen Buch eine betörende, unangestrengte Schönheit. Die meisterhafte Stilistin Iris Wolff setzt kein Wort zu viel, verknüpft ihr dichtes Gespinst von Familienepisoden mit zart hingetupften Leitmotiven (wie Henriettes blauen Ring, den sie einst im Tausch gegen Brot und Speck erhalten hat und den sie Hedda vererbt), zeichnet mühelos luftige Naturbilder und findet für alles Schreckliche wie für alles Schöne des Lebens unverbrauchte Bilder, die in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur kaum ein Pendant haben. Allein wie sich Heddas Eltern, Vicco und Liane, für einen Tag ins 600 Kilometer entfernte Constanta ans Schwarze Meer aufmachen, um frischen Fisch zu essen, das Abenteuer auskosten und sich am Strand lieben, ist eine jener unvergesslichen, vor Poesie blinkenden Geschichten, von denen „So tun, als ob es regnet“ sehr viele hat.

Wenn es denn in diesem Jahr bald wieder darum gehen wird, herausragende Bücher auszuzeichnen, dann führt an diesem Roman kein Weg vorbei, dann darf an diesem Roman kein Weg vorbeiführen. ■

Iris Wolff

So tun, als ob es regnet

Roman in vier Erzählungen. 166 S., geb., € 18 (Otto Müller Verlag, Salzburg)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.07.2017)

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