Der lange Abschied

Religionen haben sowohl an der Erhaltung als auch am Sturz des Patriarchats Anteil. „Wer wirft den ersten Stein?“ nennt Christa Chorherr ihr Buch, in dem sie dem Frausein im Judentum, im Christentum und im Islam nachspürt.

Wie kannst du als modern denkende Frau heute noch katholisch sein?“ Hildegard Holzer, ei-ne Wegbereiterin für Frauen in der katholischen Kirche in Österreich, wurde das bereits in den frühen 1920er-Jahren gefragt. Als ich 75 Jahre später meine Dissertation über Hildegard Holzer schrieb, begegnete ich demselben fragenden Vorwurf. Und wer derzeit – als Frau wie als Mann – Kirchenmitglied bleibt, steht ebenfalls vor dieser Frage. Aber auch Muslimen wird oft nahegelegt, ihre Religion würde sich mit ei- ner reflektierten Existenz in der spätmodernen Kultur nicht vertragen. Ähnliches erfahren auch gläubige Jüdinnen und Juden.

Ein treffliches Argument für die angebliche Unmöglichkeit, zugleich klar zu denken und gläubig zu sein und sich an die religiösen Weisungen zum guten Leben zu halten, sind das in den Religionen tradierte Frauenbild sowie die damit verbundenen Vorstellungen zum Zusammenleben der Geschlechter und zur Kultivierung von Sexualität.

Gerade in diesen Bereichen zeigt die globalisierte, spätmoderne Kultur einen epochalen Umbruch, der wesentlich einen Paradigmenwechsel bedeutet, weg von der dem Mann unterworfenen hin zur freien selbstbewussten Frau. Eine über Jahrtausende prägende Denkweise und Organisationsform des Sozialen verändert sich damit so massiv, dass Feministinnen vom „Ende des Patriarchats“ sprechen. Es ist mit einem langen Abschied zu rechnen.

Religionen haben sowohl an der Erhaltung des Patriarchats ihren Anteil als auch an seinem Sturz – und zwar dieselben Religionen. So lässt sich etwa die Emanzipationsdynamik der Moderne auch als eine Auswirkung der egalitären Sicht des Menschseins vor Gott lesen, die in allen drei großen monotheistischen Religionen tradiert wurde. Zugleich haben die symbolischen Ordnungen dieser Religionen über lange Zeit die patriarchalen Verhältnisse widergespiegelt und gestützt. Spätestens seit dem 20. Jahrhundert ist das „Ausschleichen“ des Patriarchats auch in den Religionsgemeinschaften nicht mehr zu übersehen. Es haben tief gehende Reinterpretationen – von Lehrautoritäten wie in der Lebenspraxis – eingesetzt.

Geht das also nun, eine freie selbstbewusste Frau zu sein und eine gläubige Christin, Muslima, Jüdin? Christa Chorherrs Buch über die „Unterdrückung von Frauen durch Religion“ wirft diese Frage auf, auch wenn sie explizit in dem Text weder gestellt noch beantwortet wird. Chorherr hat vielmehr eine enorme Fülle von Informationen gesammelt über frühere und heutige Sichtweisen, offiziell-institutionell kommunizierte und praktisch gelebte Überzeugungen sowie historische und kulturell geprägte Lebensformen von Frausein in Judentum, Christentum und Islam. Leider wird die Unterschiedlichkeit dieser verschiedenen Zugänge und Quellen nicht gewichtet, sodass die Darstellung an der Oberfläche bleibt.

Aussagen aus verschiedenen Jahrhunderten und unterschiedlichen Kulturen bleiben nebeneinander stehen, ohne dass ein reflektierter hermeneutischer Schlüssel zur Einordnung geboten würde. Aus dem reichhaltigen, wenn auch oft allzu knapp dargelegten Material Schlüsse zu ziehen, überlässt die Autorin weitgehend der Leserschaft. Ihr eigenes Interesse bleibt unklar, leider oft auch die Abgrenzung eigener Meinung von belegbarem Wissen (nicht einmal zu den zitierten Bibel- oder Koranstellen gibt es genaue Quellenangaben). Ein Anliegen der Autorin könnte gewesen sein, den Angehörigen der hierzulande dominanten, nachchristlichen Kultur zu zeigen, dass es mit ihrer Geschlechtergerechtigkeit nicht so weit her ist, weil eine diskriminierende Sicht von Frausein kein Privileg des Islam ist.

Das Buch scheint jedenfalls auf die in der öffentlichen Debatte oft verengte Perspektive einer einseitigen Schuldzuweisung zu reagieren. Oder trieb Chorherr schlicht die Neugier auf den unbekannten Islam und seinen Vergleich mit den eigenen kulturell-religiösen Wurzeln? Jedenfalls sind die Abschnitte zum Islam zumeist länger als die zu Christentum oder Judentum. Dabei ist der wohl beabsichtigte Solidarisierungseffekt – Frauen sitzen in Sachen Kampf um Würde und Gleichberechtigung quer durch die Kulturen und Religionen im selben Boot – größer als der eigentliche Informationswert.

Kann nun eine denkende Frau angesichts dieses Erbes noch gläubig sein und ihre Religion im Rahmen verfasster Institutionen
leben, die dieses Erbe noch in sich tragen? Es ist der Autorin zugutezuhalten, dass sie sich bemüht, auch denjenigen, die als selbstbewusste Frauen aktive Mitglieder ihrer Religionsgemeinschaften sind, gerecht zu werden. So benennt sie etwa auch frauenbefreiende Teile der Traditionen und herausragende Frauengestalten aus den heiligen Schriften beziehungsweise der Geschichte sowie heutige feministische Interpretationen.

Um als Kind der Moderne affirmativ zur eigenen, auch institutionell verfassten Religion zu stehen, braucht es in Bezug auf die Geschlechterfrage wohl ein genaues Hinschauen auf das doppelte Erbe der Religionen: auf ihre Mithilfe dabei, Frauenunterdrückung aufrechtzuerhalten, wie auf ihren Beitrag dazu, Frauen ein Bewusstsein ihrer Würde und Unantastbarkeit zu geben. Wer heute denkend religiös ist, hat die Illusion einer makellosen Glaubensgemeinschaft ohnehin längst aufgegeben – und weiß, dass das gemeinsame Unterwegssein und Wachsen in der Wahrheit den Raum aufmacht, in dem Hoffnung und Sinn gedeihen. Erst recht für Frauen am Ende des Patriarchats. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.04.2010)

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