Der Neid auf die Sozialhilfe

Funkelnd: Thomas Rothschild analysiert die Gesellschaft.

Unter dem Titel „O Gerechtigkeit“ legt Thomas Rothschild einen Essay über Fragen der politischen und gesellschaftlichen Ethik vor, der in seiner Vielschichtigkeit beim Leser für Verwirrung sorgen kann, aber in seiner Welthaltigkeit und Präzision fasziniert. Der Autor spürt seiner Fragestellung von der Politik über das Theater, die erzählende Prosa bis zum Film nach, und so reichen die einzelnen Texte von der gesellschaftlichen Elitenbildung über Fragen der Terrorangst und ihrer politischen Instrumentierung bis hin zu aufschlussreichen Kapiteln über Filme von Fritz Lang, John Ford und Martin Scorceses „Cape Fear“.

Besonders gelungen erscheinen die mit sarkastischer Verve geschriebenen „Würdigungen“ ehemaliger ultralinker Publizisten, die in jedem zweiten Satz ihren Kotau vor den einstigen Gegnern machenund sich mit einer die Grenze des Lächerlichen überschreitenden Gefühlsaufwallung als die wahren und besseren Wirtschaftsliberalen aufspielen.

Zu Peter Sloterdijk, der die These von der „Ausbeutung der Produktiven durch die unproduktiven Sozialhilfeempfänger“ wohlwollend kommentiert und einer „Abschaffung der Zwangssteuern“ sowie einer „Umwandlung der vermögensbezogenen Steuern in Geschenke an die Allgemeinheit“ das Wort redet, stellt der Autor, der die deutschen Hartz-IV-Gesetze vor Augen hat, lakonisch fest, dass diese negative Utopie längst auch unter Grünen und „bei großen Teilen der Sozialdemokratie konsensfähig“ ist. Die zeitgenössische Version des „Sozialschmarotzertheorems“ hat gute Chancen auf eine gesetzliche Verankerung. Dass die Armen von Teilen der Gesellschaft noch um die sozialen Transferleistungen beneidet werden, ist Ausfluss dieser Entwicklung.

Mit sprachlicher Eleganz

Besonders anschaulich wird Rothschild, wenn er Fragen der Gerechtigkeit in großen Werken der Bühnenliteratur nachgeht. Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ wird dabei ebenso kenntnisreich analysiert wie Kleists „Michael Kohlhaas“ und Stefan Zweigs „Angst“. Dass die Inhaltsangabe eines der schwierigsten, aber auch ergiebigsten literarischen Genres ist, führt der Autor in sprachlicher Eleganz und gedanklicher Präzision vor. An die Aufrisse der Werke knüpft Rothschild produktive Überlegungen, in denen er sowohl die wechselnden historischen Determinanten von Gerechtigkeit als auch die überzeitlichen Fundamente einer menschenfreundlichen Ethik diskutiert. In der Darstellung des Richters Azdak in Brechts „Kreidekreis“ ist diese Methode auf eine besonders überzeugende Weise gelungen. Aber auch die Kapitel über Albert Camus' „Die Gerechten“ und Jurek Beckers „Bronsteins Kinder“ sind kleine Meisterwerke einer umfassenden ästhetischen Reflexion.

Mit einer weit ausholenden Geste handelt hier ein souveräner Kenner der Literatur und des Films Fragen der Brauchbarkeit und Angemessenheit ethischer Konstanten ab. Dabei liefert der Autor keine stumpfe Gelehrtenarbeit ab, sondern einen vor Leidenschaft funkelnden Essay. Wer mit einer ungerechten Welt seinen Frieden macht, läuft Gefahr, das Menschliche in sich abzutöten. Rothschild geht den gegensätzlichen Weg. Er führt vor, wie fesselnd und berührend die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Widersprüchen sein kann. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.04.2010)

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