Stalin, Charms und die Zahnbürste

Eine Wundertüte verspielter Einfälle: Olga Martynovas Geschichte einer deutsch-russischen Freundschaft.

Die 1962 in Krasnojarsk geborene Autorin Olga Martynova, die seit 1991 in Deutschland lebt, ist bisher vor allem als Dichterin und rührige Vermittlerin russischer Poesie im deutschen Sprachraum hervorgetreten. Nun aber hat sie ihren ersten, auf Deutsch verfassten Roman vorgelegt, der sich bereits auf den ersten Seiten als eine Wundertüte verspielter Einfälle und melancholischer Einsichten erweist.

Marina machte vor 20 Jahren die Bekanntschaft von Andreas, der im Leningrad von Glasnost und Perestroika Russisch studierte. 20 Jahre später, 2006, fliegt sie nach Deutschland, um von den „seltsamsten Dichtern Petersburgs“ zu berichten, lebenden und toten, wie zum Beispiel dem avantgardistischen Dichterkreis um Daniil Charms, aber auch um eine private Entscheidung zu treffen. So nimmt sie auf diese Reise nicht nur die Erinnerung an die Sowjetunion mit – vom Stalin-Terror über den Zweiten Weltkrieg bis zur Gorbatschow-Zeit –, sondern eben auch an ihre unglückliche Liebe zu Andreas, den sie liebevoll Andrjuscha nennt. In einer Mail hat er ihr vorgeschlagen, „nach so vielen Jahren von Missverständnissen aller Art nun endlich einfach zusammen“ zu sein.

Das könnte der Stoff für einen pathetischen Roman über deutsch-russische Freundschaft (und Liebe) sein, doch dieser Gefahr weicht Martynova glücklich aus. Bereits mit den um eine Traumerinnerung kreisenden Anfangssätzen – das Kind Marina kommt in den Armen einer Frau über den Gebirgsbach ans andere Ufer, ohne dass die Unbekannte auch nur einen Schritt tun muss – erweist sich die Erzählerin als Melancholikerin der Zeit: Denn in der Tat überwindet jeder den Zeitfluss, ohne etwas dafür tun zu müssen. Dass das eigentliche Thema des Buches die Zeit ist (eine Zeit, die in paradoxer Weise sowohl verfließt als auch nicht vergeht), spiegelt sich nicht zuletzt in seiner grafischen Struktur. Jedem der 89 kurzen, manchmal nur eine halbe Seite langen Kapitel steht eine Jahresskala voran, die in großen Sprüngen vom fünften Jahrhundert vor Christus bis 2006 reicht, um jeweils fett gedruckt auf das Jahr zu verweisen, von dem es erzählen wird. Gemeinsam mit den verblüffenden Kapitelüberschriften („Was z. B. in diesem Luftballon war und mit ihm zusammen wegflog – von mir“) ergibt sich schon daraus ein reiches, hoch aufgeladenes Bedeutungsfeld, in das die Erzählerin ihre poetisch luftigen Wimpel steckt.

Und was hat sie nicht alles zu erzählen! Von sich selbstständig machenden elektrischen Zahnbürsten oder den „Dingen aus einem anderen Leben“ in der Sowjetunion, hinter deren sparsamer Beschreibung sich ganze Romanlandschaften öffnen, bis zu den Schicksalen der Dichter um Charms – diese Fülle an Geschichten in sinnlich-plastischer Sprache machen Martynovas Roman zu ei- nem ganz eigenen, schwerelosen Lesevergnügen. Dessen Ende hält sogar ein, wenngleich skeptisches, Happy End bereit. „Okay, ich bleibe bei dir“, entscheidet sich die Erzählerin am Schluss für ihren Andrjuscha, „wir werden vielleicht noch glücklich in dieser so anders gewordenen Welt.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.08.2010)

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