Acht Monate Winter

Es klingt nach trockener Wissenschaftsliteratur: Opposition und Verfolgung an der Universität Halle nach 1945. Tatsächlich war der studentische Widerstand an der Saale ein exemplarisches Aufbäumen gegen den Panzer-Kommunismus. Ein „Pageturner“ für historisch Interessierte.

Ich nehme das Buch in die Hand. Der Titel eher sperrig, der Umfang üppig. Ein Buch für die Bibliothek. Ich lese dennoch mitten hinein und – höre nicht mehr auf. Selten machte ein Buch so nachdenklich. Selten reflektiert man so eindringlich, was denn die Grundpfeiler des freien Europa sind: der vielfach „kleine“ antikommunistische Widerstand von Studenten in der DDR, von Arbeitern in Polen, von „Waldbrüdern“ in Lettland, von Häftlingen im Gulag oder von Bauern in der Westukraine. Dabei riskierten die Widerständler Kopf und Kragen, und nur allzu viele verloren dabei ihr meist junges Leben. Sie alle gehören mit in die Geburtsstunde des freien Europa.

Das zeigen die pensionierte Biologin Sybille Gerstengarbe und der ehemalige Bundeswehr-Generalarzt Horst Hennig. Detailreich, spannend und mit vielen Einzelschicksalen, die man nicht einfach umblättert. Der frühe studentische Widerstand gegen das kommunistische Regime in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands, der späteren DDR. Es war ein Freiheitskampf, den beherzte Studenten und Professoren ausfochten. Ein mutiges Aufbäumen gegen einen übermächtigen Gegner. Die Folge: Berufsverbote, Verhaftungen, langjährige Haftstrafen in Speziallagern der DDR und im sowjetischen Gulag, vollstreckte Todesurteile.

Die Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg war ein Brennpunkt dieser frühen und starken antikommunistischen Opposition, deren Impulse jedoch viel weiter reichten: Der 17. Juni 1953 und vor allem die Wende 1989 sind ohne die intellektuelle Oppositionsbewegung der ersten Nachkriegsjahre im Osten Deutschlands so nicht denkbar. 160 Angehörige der Halle'schen Universität wurden aus politischen Gründen verhaftet, verschleppt oder hingerichtet. Meist wurden die Angehörigen der Verhafteten nicht benachrichtigt.

Das Buch beschreibt die erschütternden Schicksale von mehr als 160Angehörigen der Universität in Halle-Wittenberg aus den Jahren 1946 bis 1961. Und bettet sie ein in die Beschreibungen der Arbeit der Stasi-Spitzel, der tausendfachen Alltagsrepressionen der DDR-Diktatur, der zögerlichen Entstalinisierung nach Chruschtschows Parteitagsrede 1956, der ständigen Angst vor Verhaftungen. Drastisch wird gezeigt, wie Studenten aus ihren Wohnungen heraus verhaftet und in Zuchthäuser (viele davon in den berüchtigten „Roten Ochsen“ in Halle) gesperrt, verurteilt und in Besserungsarbeitslager des sowjetischen Gulag (meist für 25Jahre) verbracht wurden, von wo es für einige keine Wiederkehr mehr geben sollte.

Einzelschicksale werden erst jetzt bekannt. Jenes des Sportlehrers Helmut Huwe, des Slawistikstudenten Herbert Schönmuth, des Studentenpfarrers Johannes Hamel oder des Geologen Hans Gallwitz. Archivarbeiten in Moskau, Recherchen, Gespräche mit „Zeitzeugen“ und ehemaligen Häftlingen, Nachforschungen vor Ort in Halle lieferten einen Aktenberg des Grauens, tiefster menschlicher Erniedrigungen, aber auch einzigartigen Heldentums. Meist wurden die Angehörigen der Verhafteten nicht benachrichtigt, selbst Todesdaten vom System gefälscht, um alle Spuren zu verwischen. Nun tauchen sie wieder auf, jene, die man aus der Geschichte ausradieren wollte.

Die Gesamtzahlen der politischen Verfolgten in der SBZ/DDR zwischen Mai 1945 und März 1950 bedrücken: rund 120.000 in sowjetischen Speziallagern Internierte, teils verurteilt, teils ohne Urteil, teils wegen angelasteter Kriegsverbrechen, großteils aus politischen Motiven. Dennoch weichen sie hinter den persönlichen Schicksalen zurück.

Einer der verhafteten Hallenser Studenten war Horst Hennig. 1926 in Sachsen-Anhalt geboren, begann er nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft mit seinem Medizinstudium in Halle. Er und sechs weitere Studenten hatten die demokratische Rechtmäßigkeit der Studentenratswahlen im Februar 1950 in Zweifel gezogen. Daraufhin wurde er von der sowjetischen Administration wegen angeblicher Zugehörigkeit zu einer „konterrevolutionären Gruppe“ zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt und nach Workuta am Eismeer deportiert: acht Monate Winter, bis minus 60 Grad, Arbeit in der Kohlegrube in drei Schichten – das Ende der Welt. Von hier gab es praktisch keine Rückkehr mehr. Workuta, ein großer Lagerkomplex nördlich des Polarkreises, ein Synonym für den Gulag. Hier waren auch hunderte Österreicherinnen und Österreicher inhaftiert.

Und da setzt auch ein wichtiger und unmittelbarer Österreich-Bezug ein. Er führt, neben der Beschreibung der Haftbedingungen in Workuta, auch zur Klärung des gewaltsamen Todes eines der letzten österreichischen Stalin-Opfer, zu Ingenieur Karl Schmid, geboren 1905 in St. Lambrecht/Steiermark. Horst Hennig war im Teillager Nr. 10 des Schachtes Nr.29 sein unmittelbarer Schlafnachbar in der Koje. Der Unternehmer Karl Schmid, Inhaber der Firma „Konti-Intro“, verwandt mit der Papierindustriellenfamilie Schweizer in Frohnleiten, war 1948 von den Sowjets in Niederösterreich als „amerikanischer Spion“ verhaftet, 1949 verurteilt und über das Moskauer Butyrka-Gefängnis nach Workuta verbracht worden.

Hier beteiligte sich Schmid – ebenso wie Horst Hennig und tausende andere Häftlinge – im Juli 1953 am Widerstand gegen das Gulag-Regime und forderte in einer Eingabe an das ZK der KPdSU „die Freilassung aller politischen Häftlinge aus den Lagern; die Möglichkeit für Ausländer, in ihre Heimat zurückzukehren, und die Garantie der Straffreiheit für alle Streikenden“. Nach Stalins Tod, den Amnestieverordnungen Lavrentij Berijas und dem Volksaufstand in der DDR am 17.Juni 1953 hatten auch die Gulag-Häftlinge Hoffnung auf eine Beendigung ihrer Haft und ihrer hoffnungslosen Lage geschöpft.

Der Streik fand Ende Juli 1953 im Schacht Nr.29 und im dazugehörigen Teillager Nr.10 (mit rund 40 Unterkunftsbaracken) einen Höhepunkt, als es zu einer bis dahin unvorstellbaren harten Diskussion zwischen dem Streikkomitee unter dem Polen Eduard Buca und dem stellvertretenden sowjetischen Innenminister Iwan I. Maslennikow und seinem Stab kam, bei der Maslennikow den Argumenten der Häftlinge keineswegs gewachsen war. Zwei Tage später, am 1. August, forderte die Lagerobrigkeit die Häftlinge auf, die Arbeitsverweigerung zu beenden. Zur Unterstützung wurden vor dem Lager automatische Waffen postiert. Von den rund 3000 Häftlingen kamen nur rund 20 der Aufforderung des Regimes nach.

In mehreren Reihen, teilweise mit entblößten Oberkörpern, stellten sich hunderte Häftlinge gegen die automatischen Waffen. Mehrere Salven, ein furchtbares Gemetzel, zahlreiche Tote und Schwerstverwundete. Unter ihnen auch Karl Schmid, dem der Oberarm abgeschossen wurde und der zu verbluten drohte. Sein Freund Hennig wurde an einer Hilfeleistung brutal gehindert und aus dem Lager getrieben. Schmid verblutete hilflos. Wie Tausende andere auch, erfuhren die Angehörigen von Karl Schmid erst Anfang der 1990er-Jahre durch die Arbeit des Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung in Graz und Wien von seinem Schicksal. Der Rezensent selbst konnte, auch im Zusammenhang mit den Bemühungen und Recherchen von Horst Hennig, 1996 in Workuta den NKWD-Akt von Karl Schmid ausheben und der Familie übergeben.

Wenn in Zukunft die Geschichte Ostmitteleuropas nach dem Zweiten Weltkrieg neu geschrieben wird, muss der frühe Widerstand der deutschen Studenten, aber auch der Widerstand in den Wäldern des Baltikums, der Westukraine, Westweißrusslands und anderer Gebiete des Sowjetimperiums gegen die kommunistische Diktatur einen wichtigen Platz einnehmen. Er war die Basis, auf der später die Freiheitsbewegungen 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und Polen, 1968 in der Tschechoslowakei, in den beginnenden Achtzigerjahren in Polen und der Ukraine aufbauten. Und er war die Basis für die Erweiterung des freien Europa. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.01.2011)

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