Der Schuh, mit dem man nicht flüchten kann

Detailreich: Anne Sudrow über die „Schuhpolitik“ in der NS-Zeit.

Hier waren sie plötzlich wieder: die Schuhberge, wie wir sie zuletzt in den Gedenkstätten der Konzentrationslager gesehen haben. Im November 2010 wurden sie in der Schweiz als Demonstration gegen die „Ausschaffungsinitiative“ der Schweizerischen Volkspartei aufgetürmt, Verbildlichung der entwürdigenden Abschiebekriterien. Der Schuh im Abfallberg als Zeichen der geraubten Menschenwürde, der Schuh, nachgeworfen den Verachtetsten der Gesellschaft, wie dem ägyptischen Präsidenten Mubarak im Februar 2011, oder dem deutschen Bundesminister Norbert Röttgen beim Castor-Transport ebenfalls im Februar 2011. „Sowie ich mich angezogen habe, steige ich auf den Fußboden hinunter und fahre in die Schuhe. Dann öffnen sich wieder die Wunden an den Füßen, ein neuer Tag beginnt“, schrieb Primo Levi über Leidensanfänge in den Konzentrationslagern.

Lange dauerte es, bis die Wissenschaft den Schuh wahrnahm, den Blick hinuntersenkte, in die Perfidie des Fußtritts, des Zertretenseins, der Versohlung, wie's die Strafe vorsieht. Nur die Wissenschaft, nicht die Dichtung konnte sich dem Schmerz an den Füßen so lange verschließen: Der Schuh als „Pappschuh“ war im „Lied vom Schuh“ von Bertolt Brecht besungen, wie in einem Gedicht Johannes R. Bechers: „Der Kindermord ist klar erwiesen. / Die Zeugen all bekunden ihn. / Und nie vergeß ich unter diesen / Die Kinderschuhe aus Lublin.“

Jetzt ist die Fußbekleidung als politisches Objekt entdeckt worden: von der gelernten Schuhmacherin und Wirtschaftshistorikerin, der am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam tätigen Anne Sudrow. Ihr Blick hinunter auf den Fuß, fokussiert auf die kurze, aber dramatisch wirksame Zeit der NS-Herrschaft, offenbart die Verflechtung des lange übersehenen Produkts als eine Geschichte der Schuhindustrie, des einengenden Modediktats des Regimes, in ihrem seltsamen Missverhältnis von Überversorgung mit SS-Männer-Stiefeln und der Einstellung der Lederschuhproduktion für Frauen ab 1937.

Der Schuh als Demütigung, wenn er so zerschlissen war, geräuschlos leise, dass er seine Funktion nicht mehr wahrnehmen konnte, oder wenn er den KZ-Häftlingen als Holzpantine aufgezwungen wurde, störend laut, das Gehen beschwerlich und die Flucht unmöglich machend. „Der Tod beginnt bei den Schuhen“, stellte der KZ-Häftling Primo Levi fest: „Für die meisten von uns haben sich Holzschuhe als wahre Marterwerkzeuge erwiesen, weil sie schon nach wenigen Stunden Marsch schmerzende Wunden verursachen, die sich unweigerlich infizieren. Wer davon heimgesucht ist, muss so laufen, als habe er ein Gewicht am Fuß hängen (daher die eigenartige Gehweise des Gespensterheeres, das allabendlich zur Parade heimkehrt); er ist überall der letzte, und überall bekommt er Schläge.“

Mehr noch als andere Teile war der Schuh ein wirksames Mittel der Verachtung oder des vergönnten Privilegs. Sudrow schreibt von der KZ-Lagerhierarchie, in der deutsche und „arische“ Häftlinge als besonderes Privileg Lederschuhe tragen durften, Primo Levis „Kapo“ ebenso. „Auf der Treppe des Laborgebäudes war er schnellfüßig, während ich unbeholfen und lärmend in meinen ungleichen, übergroßen Pantinen hinabsteige und mich dabei wie ein alter Mann am Geländer festhalte.“ Auch jetzt, 65Jahre später, gibt es nur sehr beschränkte Reaktionen zur Forschung von Anne Sudrow, deren Buch im vorigen Jahr mit dem Hedwig Hintze Preis ausgezeichnet wurde. Bisher hat nur eine einzige Schuhfirma Kritik geübt – wenn auch nur an technischen Details der Beschreibung. Eine politische Positionierung der Schuhindustrie, gar der Versuch einer Wiedergutmachung, steht noch aus. Mediziner, Passformforscher, Konsumforscher waren an der NS-Schuhproduktion beteiligt – weder wurden sie sich bisher ihrer Verantwortung und der Folgen ihrer Daten bewusst, noch haben sie bei noch überlebenden Schuhläufern Kontakt oder gar Vergebung gesucht.

Schuhläufer, eine qualvolle Tätigkeit: Die Opfer, hat Anne Sudrow für ihr Buch „Der Schuh im Nationalsozialismus“ recherchiert, mussten bis zu 42 Kilometer am Tag auf den verschiedenen Belegen gehen oder laufen, die Vorarbeiter setzten ihren unmenschlichen Ehrgeiz darein, die Prüfstrecken der Opfer von anfänglichen täglichen 32 Kilometern auf 43 auszudehnen; die ersten beiden Runden, 1400 Meter, wurden im Laufschritt bewältigt, danach wurde im sogenannten Sport „geprüft“: also Hinlegen, Aufstehen, Hüpfen auf der Stelle, im Parademarsch klopfen. Zur Unsinnigkeit kam die Bosheit des NS-Regimes: Die Häftlinge mussten beim Gehen, täglich ab sechs Uhr früh und bis abends um 17 oder 18 Uhr, deutsche Lieder singen.

Die Schuhprüfstrecke im KZ Sachsenhausen, 700 Meter lang, wurde 1961 nach den Angaben der sowjetischen Militärbehörde rekonstruiert: „Die Standardstrecke besteht zu 58 Prozent aus Betonmasse, 10 Prozent aus Schlackenweg, 12 Prozent aus Sandgruben, 8 Prozent Lehm-, 4 Prozent Splitt-, 4 Prozent grobgeschotterten Wegen und 4 Prozent quadratischem Pflaster. Die Lehmstrecken werden bei trockenem Wetter ständig feucht gehalten.“ Die Schuhprüfstrecke im KZ war eine Reaktion auf die Unzufriedenheit des deutschen Volkes, das mit den schlechten Ersatzstoffen für seine Fußbekleidung nicht mehr bei Laune zu halten war. Die Idee war, am Ende eine Qualitätspyramide von Materialien zu präsentieren; wie so vieles gelang auch das dem NS-Regime nicht, die Tests waren ad absurdum geführt, die Schuhläufer hatten umsonst gelitten. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.04.2011)

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