Bildung wird vererbt

Besseres Lehren und Lernen kann, so das Credo des Neurobiologen Gerhard Roth, durch das Wissen um die Funktion des Gehirns entstehen. Mit seiner Untersuchung „Bildung braucht Persönlichkeit“ möchte er Erkenntnisse der Neurowissenschaften für unsere Bildungseinrichtungen nutzbar machen.

Bildung ist ein öffentliches Gut und ein individuelles Vermögen. Bildung ist ein Synonym für ein breites gesellschaftliches Interessenfeld, in dem es um soziale Gerechtigkeit, Integration, Lebensstandard, Gesundheit oder Lebenschancen geht. Seit den Zeiten Maria Theresias gibt es verpflichtenden Unterricht für alle Kinder. Dies soll persönliche Entfaltung und wirtschaftlichen Erfolg bringen. Doch die soziale Struktur unserer Gesellschaft spiegelt sich im Bildungswesen. Bildung wird „vererbt“. Wer hat, dem wird gegeben. Wer bekommt, will mehr.

Um Differenzen auszugleichen, die durch Migration, Wandel der Arbeitswelt und Globalisierung entstehen, sollte auch das Bildungswesen seinen Beitrag leisten. Doch die Leistungen des Bildungswesens stehen unter massiver Kritik. Es ist nur mäßig erfolgreich, wie der internationale Vergleich schulischer Leistungen zeigt. Diese Kritik greift der Professor für Verhaltensphysiologie an der Universität Bremen, der Neurobiologe Gerhard Roth, auf. Seit drei Jahrzehnten analysiert er das Organ des Lernens: das Gehirn. Mit seinen Einsichten, Erkenntnissen und Forschungsergebnissen will er die Lernprozesse optimieren, die wir in Schule, Universität oder Weiterbildung vollziehen.

Lehren und Lernen finden stets im Rahmen der Persönlichkeit des Lehrenden und des Lernenden statt. Das ist die Hauptthese des Buches. Der Autor stellt unter Bezug auf Erkenntnisse der Neurowissenschaften sein „Vier-Ebenen-Modell“ der Persönlichkeit vor: Die erste Ebene ist das „unbewusste Selbst“, zu dem das vegetativ-affektive Verhalten (und anderem Regulation von Stoffwechsel, Blutdruck, Verdauung, Hormonsystem, Schlaf) und unser Temperament (zum Beispiel neugierig, vorsichtig, kommunikativ, ängstlich) gehören. Dies wird in den ersten Wochen der Schwangerschaft ausgebildet. Bereits vor der Geburt und kurz danach erfolgt die „emotionale Konditionierung“ im mesolimbischen System und der Amygdala (Mandelkern). Auf dieser Ebene werden wir in unserem Geschmacksempfinden, in Grundgefühlen wie etwa Angst, Abwehr oder Überraschung emotional festgelegt. Hier hinterlassen erste Bindungserfahrungen ihre Spuren, die Bedürfnisskala bezüglich Schmerz und Lust legt sich fest. Bewusste, großteils sozial vermittelte Emotionen, „unser individuell-soziales Ich“, befinden sich als dritte Ebene in den limbischen Anteilen der Großhirnrinde. Roth spricht vom Ort des „Bauchgefühls“. Im oberen Stirnhirn, auf der vierten Ebene, ist das „kognitiv-kommunikative Ich“ beheimatet. Verstand und Intelligenz, Problemlösen und rationale Handlungsplanung sowie die Verbindung zu den sensorischen und motorischen Zentren sitzen in der Großhirnrinde. Die geringen Verbindungen zwischen Intelligenz im oberen und der Gefühlskontrolle im unteren Stirnhirn erklärt Roth als Grund, warum rationale Argumente ohne emotionale Anbindung oft so wenig wirksam sind.

Aktiviert wird das Netzwerk Gehirn durch Neuromodulatoren – sie interagieren hochkomplex in verstärkender oder hemmender Weise. Roth unterscheidet sechs Grundsysteme, die die neurobiologischen Grundlagen einer Persönlichkeit kennzeichnen: Stressverarbeitung, Selbstberuhigung, Selbstbewertung und Motivation, Impulskontrolle, Bindung und Empathie sowie Realitätssinn und Risikowahrnehmung. Roth nennt menschliche Persönlichkeiten „komplizierte Gebilde“. „Jeder von uns ist ein höchst individuelles Mosaik verschiedener Merkmale, das die Art, wie wir wahrnehmen, fühlen, denken, erinnern und unsere Handlungen planen und ausführen, festlegt.“

Roth bestätigt, dass unsere emotionale „Grundausrüstung“ – Hunger, Durst, sexuelle Lust, Wachheit, Müdigkeit, Aggression, Wut, Schmerz, Fürsorge, Geborgenheit – angeboren und nicht gänzlich zu unterdrücken, aber durch Erfahrung und Training begrenzt veränderbar ist. Unsere Gefühlsbewegungen bedingen sich durch die Ausschüttung von Substanzen, wie zum Beispiel Serotin, Endorphine, Oxytocin. An Lust und Leid sind Cocktails verschiedener chemischer Substanzen beteiligt. Unsere Motive basieren auf dem Streben nach Wohlbefinden, auf dem Wunsch, Positives zu erleben und Negatives zu vermeiden. Alles, was wir tun, tun wir aufgrund von Bedürfnissen.

In allen Schwerpunkten des Buches, die unter anderem Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Bewusstsein, Intelligenz, Emotionen, Sprache, Bedeutung und Verstehen behandeln, stellt der Autor Bezüge zum Lernen her. Wir lernen auch im Schlaf, indem Gelerntes im Langzeitgedächtnis gespeichert wird. Deshalb ist es vorteilhaft, beruhigt schlafen zu gehen, um diese Speicherprozesse nicht durch aufregende Erlebnisse oder Filme zu stören. Nicht zuletzt: Ohne Fleiß kein Preis! Fleiß und Ausdauer, stellt der Neurobiologe fest, sind unerlässliche Ingredienzen von Erfolg.

Mit seinen Erkenntnissen will Roth richtiges Lernen ermöglichen. Skeptisch äußert sich der Autor gegenüber einer „pädagogischen Neurobiologie“, die mit Ergebnissen der Hirnforschung die bisherige pädagogische Praxis ersetzen will. Das hält der Autor nicht für angebracht, wie er auch dem „Gehirnjogging“ oder dem simplen „Lernen soll Spaß machen“ reserviert gegenübersteht. Besseres Lehren und Lernen kann, so das Credo des Autors, durch das Wissen um die Funktion des Gehirns entstehen.

Roth betont die Bedeutung der Persönlichkeitsbildung – sie ist eine begleitende Aufgabe allen Lehrens. Er tritt für ganztägige Schulformen ein, weil sie dieser Aufgabe besser entsprechen und Zeit zur Betreuung geben. Er plädiert für Lehrerteams, die kommunikativ die Anliegen der Lernenden und die diversen Beziehungsebenen bearbeiten. Fachübergreifender Unterricht, der Vernetzung anregt, Rücksicht auf Vorerfahrungen und Vorkenntnisse, ständige Förderung aller Lernenden und Stärkung von Selbstvertrauen sind weitere wichtige Aspekte.

Aus seinen Erkenntnissen über das menschliche Gehirn hat Roth eine aufklärende Schrift verfasst. Für gelingende Lernprozesse sind Lehrende gefordert, die dieses Wissen anwenden und über ihre Erfahrungen kommunizieren. Es sind wissenschaftliche Teams gefordert, die, interdisziplinär orientiert, Ergebnisse überprüfen und weiterforschen. Da hierzulande die „Lehrerbildung neu“ in Diskussion ist, stellt sich die Frage, ob und in welcher Weise die Erkenntnisse der Gehirnforschung Eingang finden – in die Inhalte, in die Didaktik, in die Organisation. Nicht zuletzt in das Bewusstsein der Lehrenden und derer, die es werden wollen, dass es zu ihrer Kernaufgabe gehört, Persönlichkeiten zu bilden. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.04.2011)

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