Gewalt als Stil, Projekt, Ästhetik

„Die Glasfresser“: Giorgio Vasta beschreibt ein gefährliches Räuber-und-Gendarm-Spiel dreier „ganz normaler“ Jugendlicher 1978 in Italien. Wahre Popstars des Terrors, die Brigate Rosse, lieferten das Drehbuch dazu.

Radikale Kinder auf dem Reflexionsniveau von Erwachsenen sind die Protagonisten eines der erstaunlichsten neuen Romane aus Italien. Giorgio Vasta nähert sich in seinem Debütroman dem italienischen Krisenjahr 1978 von den provinziellen Rändern her, um eine Ahnung davon zu bekommen, wie die gewaltsamen Politträume der „Brigate Rosse“, der „Roten Brigaden“, deren Ideologie und Aktionen in den Siebzigerjahren derart breite Zustimmung und Sympathie finden konnten.

Die Protagonisten, drei normale italienische Jungen in Palermo, die schon einmal gerne eine Katze quälen, scheinen von Beginn an in einer ganz eigenen Welt zu leben. „Klar denkend, abgesondert, feindselig. Elfjährige Zeitungsleser, Fernsehnachrichtenzuschauer. Beobachter des politischen Geschehens. Konzentriert und schonungslos. Kritisch, finster, präadoleszente Außenseiter.“ Sie fühlen sich als „Glasfresser“, brutal und gefährlich. Die „Wirklichkeit“ haben sie längst als eine TV-Fiktion durchschaut, zwischen Nachrichten von Terroranschlägen und der Entführung des Exministerpräsidenten Aldo Moro laufen Serien und die weltbekannt dümmlichen italienischen TV-Shows. Alle arbeiten sie an dem einen hypnotischen Effekt, der die Fiktion „Italien“ zusammenhält. So erweisen sich die Terroristen für die Jungen letztlich auch als so etwas wie die wahreren Popstars jenseits der verlogenen San-Remo-Schlager-Kultur: Die italienische Gesellschaft ist 1978 von einer mörderischen Epidemie befallen, vor der es nur eine Rettung zu geben scheint – die Roten Brigaden.

„Sie sprechen – oder: schreiben – wie wir. Ihre Kommuniqués sind komplex, die Sätze lang und voller Kraft: Sie sind die Einzigen in Italien, die so schreiben.“ Sie beunruhigen ein Land und treffen die Geisteslage der Jünglinge. Dario, auch „Scarmiglia“ genannt („Auch er ist wie ich, düster und ideologisch.“) und Bocca geben sich Kampfnamen, fortan heißen sie „Genosse Strahl“ und „Genosse Flug“ – hier findet sich noch ein Rest verspielter Kindlichkeit, die ihnen sonst fehlt. Erzählt wird die bestürzende Geschichte aus der Perspektive des konzentrierten und starken, nichtironischen „Nimbus“: Der Nimbus „ist das Wort, das den Heiligen mit Strahlenkranz bezeichnet“, undes ist das Wort, das „meine natürlich übernatürliche Umhüllung beschreibt“.

Sie imaginieren sich ein Schicksal, das mit dem Kampf zu tun hat und ziehen sich immer mehr in ein radikales Außenseitertum zurück, in dem Gewalt als ein durchaus probates Mittel zur Durchsetzung der eigenen Ideen erscheint: „Sie wird erst gewaltsam, wenn man sie schlecht gebraucht. Andernfalls ist es eine Ästhetik, ein Stil. Ein Projekt.“ Eltern haben die drei auch, aber als Weltdeuter oder -erklärer haben die Bibelsüchtigen und Gutmeinenden längst versagt: Sie leben in ihren Welten, die die Kinder nichts mehr angehen. Die Familienmitglieder haben Namen wie „Schnur“ (Mutter), „Stein“ (Vater), „Lappen“ (Bruder). Was sie tun, ist egal: Ihnen fehlt sowieso die Sprache, um den Jungen die Welt auch nur einigermaßen so erklären zu können, wie es in messerscharfen und präzisen „Analysen“ die Bekennerbriefe der Roten Brigaden schaffen.

Nimbus und seine Freunde bewegen sich mit Lust in den Zwischenräumen der Sprache, sie sind „Mythopoeten“, die genaue Verwendung des Italienischen ist Zuflucht und Kampfposition zugleich: „Das Wort Kampf enthält Sex, Wut und Traum.“ Die Klassenkameraden halten sie denn folgerichtig auch für Idioten, als sie mitbekommen, dass „die radikale Kritik der Macht“ der Hauptgegenstand ihrer Gespräche ist.

Ein anderes Buch, das sich Nimbus bestellt, erscheint zunächst politisch unverdächtig. In „Die Sprache der sozialen Bienen“ lernt er: „Die Biene erfüllt ihr eigenes Schicksal innerhalb der Notwendigkeit. Die Biene ist also die perfekte Aktivistin.“ Von den Bienen lernen sie die Körper wie „Ideogramme“ zu benutzen, sie erfinden „Alphastumm“, eine Körpersprache, mit der sie ihre Gefühle untereinander kommunizieren und die ihnen verständnislose Blicke seitens der Erwachsenen einbringt.

In Scarmiglia findet die Dreierbande ihren Chefideologen: Von der Analyse führt der Weg zur Terrorzelle, zu Training und Organisation von Aktionen. Wie so oft werden zunächst Sachen beschädigt, dann geht es um die Entführung und Ermordung eines alles wie ein notwendiges Schicksal erduldenden Mitschülers. Niemand vermutet Elfjährige hinter den Bekennerschreiben, die unmissverständlich die Handschrift der Roten Brigaden tragen.

Ohne Ironie handelt Vasta sein ernstes Thema dann doch nicht ab: Denn 1978 ist auch das Jahr der Fußball-WM im Argentinien der Militärdiktatur, und so müssen die Ideologen auch ihren Standpunkt hinsichtlich einer revolutionären Mannschaft definieren: Holland und nicht Italien ist dann auch das Team, das für die Militanz der Gruppe die richtige Form findet. „Die Veränderlichkeit der Rollen bestimmt die Unveränderlichkeit der Form.“ Dass die Unverständlichkeit der Analyse sich dem Unverstand eines zwanghaften Rationalisten verdankt, war ja tatsächlich ein häufiges Problem der radikalen Linken der Siebzigerjahre.

Nur eine Lichtfigur scheint den Gewaltlauf der Jungen stoppen zu können: Das stumme „kreolische“ Mädchen ist sozusagen der positiv lebendige Gegenpol zu den Wortwelten, die die Welt der Jungen nicht mehr retten kann. Ihre reduzierte Ausdrucksfähigkeit steht dem gefährlichen Wortwahn der Jungen gegenüber. Als Nimbus sie kennenlernt, brechen bei ihm das „Leben und Glück im Herzen ein“, aber er schafft es nicht, ihr zu sagen: Ich habe dich gern. Klar, dass sie am Ende das letzte Opfer der Gruppe werden soll, die ultimative Auslöschung, der größtmögliche Schmerz. „Und erst jetzt, da im Werden unserer Nacht die Sterne im Dunkeln explodieren, beginnt am Ende der Worte das Weinen.“

Er habe eine fehlende Zeit des Lebens beschreiben wollen, eine Phase der Kindheit, in der man noch keine Sprache habe, die Realität in Worte zu fassen, beschrieb Vasta seine außergewöhnliche Technik. In dieser Zeit sei man noch kein selbstbewusster analytischer Zeitzeuge mit einem persönlichen oder gar politischen Standpunkt. Man ist nur eine Person mit einer extremen Wahrnehmung, und für diesen präadoleszenten Zustand habe er den kindlichen Protagonisten eine erwachsene Ausdrucksfähigkeit zukommen lassen wollen. Dass er mit diesem gewagten Verfahren eine enorme Wirkung erzielt, liegt an der literarischen Könnerschaft des Autors, einer der großen Entdeckungen dieses Frühjahrs. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.06.2011)

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