Die Ursprache hören

Besondere Begegnungen. Einer trifft den Teufel, der andere den Tod, ein Dritter sitzt plötzlich neben Gott im Zugsabteil. Zoran Živković hat in der Tat einen „Unmöglichen Roman“ geschrie- ben. Eine literarische Versuchsanordnung zwischen Realismus und Fantastik.

Ein Astronom, als Ketzer verurteilt, in seiner Todeszelle. Mit überreizten Sinnen lauscht er, ob schon die Schritte der Wärter zu hören sind, die ihn zum Scheiterhaufen führen werden. Soll er seiner Lehre, die richtig ist, aber für gotteslästerlich gilt, im letzten Moment abschwören? Aus seinem Hadern reißt ihn ein nächtlicher Besucher, der Teufel ist es, der ihm ein „Zeitgeschenk“ anbietet, eine Reise in die Welt, wie sie in 300 Jahren aussehen könnte. Könnte, denn die Zukunft ist nicht vorherbestimmt, die Geschichte nicht unausweichlich, und was übermorgen sein wird, das hängt auch davon ab, wie wir uns heute verhalten. Gleichviel ob Zwang oder Freiheit: Der Astronom muss sich entscheiden, ob er diese Nacht überleben und dafür vergessen werden möchte oder den Tod zu erleiden bereit ist, damit sein Name auf ewig dem Gedächtnis der Menschheit eingeschrieben sei. „Sie müssen wissen“, erklärt ihm der Teufel, ein dialektisch geschulter Geist, „dass Ihre Entdeckung nur noch historischen Wert haben wird. Sie wird zwar nicht widerlegt, verliert aber an Aktualität und Bedeutung und gerät fast in Vergessenheit. An die Verbrennung aber wird man zurückdenken.“

Die teuflische Versuchung besteht darin, dass dem Ketzer ausgerechnet ewiger Ruhm versprochen wird, wenn er seinen hinfälligen Leib, sein ängstliches Ich opfert. Nicht der Wahrheit wegen oder um mit sich selbst im Reinen zu bleiben, soll er widerstehen, sondern aus dem durchaus eigennützigen Motiv, als Märtyrer der Wissenschaft dereinst weltberühmt zu werden. Ich weiß nicht, ob der 1948 geborene serbische Autor und Verleger Zoran ivković, ein literarischer Taschenspieler und Verwirrkünstler ersten Ranges, diese Konsequenz seines eigenen Gedankenspiels überhaupt bedacht hat. Manches spricht dafür, dass er den Nachruhm durchaus für jene Belohnung hält, die irdisches Leid, ja die Verkürzung des Lebens zu entgelten geeignet ist. Aber es ist weniger wichtig, wie ivković die Sache sieht, als dass er diese literarisch mit unerbittlicher Logik entwickelt und als Versuchsanordnung so vor uns hinstellt, dass wir geradezu genötigt werden, selber Stellung zu beziehen.

Zoran ivković gründete in den frühen Achtzigerjahren in Belgrad den Polaris Verlag, der die Science-Fiction-Literatur in Jugoslawien heimisch machte, und hat seither selbst rund 20 Bücher geschrieben, die alle zwischen Realismus und Fantastik, Gedankenspiel und Fabulierfreude, strenger Logik und freier Fiktion changieren. Darunter sind auch fünf Bände mit Erzählungen, die in Serbien geradezu Mode und Kult wurden. Nun sind diese Erzählungen, 28 an der Zahl, beim DuMont Verlag auf wundersame Weise, wie sich das für einen Autor fantastischer Literatur gehört, als Roman angekommen. „Der unmögliche Roman“ ist wirklich unmöglich, weil er gar keiner ist, aber offenbar gibt es kaum mehr Kriterien dafür, was einen Roman ausmacht, und kaum mehr Skrupel, was den Schwindel mit literarischen Etiketten anbelangt. Alle Erzählungen von Zoran ivković gehen von einer Fiktion aus, die der Realität, wie wir sie zu kennen meinen, ein unwahrscheinliches Element hinzufügt.

Besuch in der Vergangenheit

Wie der Astronom als „Zeitgeschenk“ einen Blick in die Zukunft werfen kann, wird einer Paläolinguistin der Besuch in der Vergangenheit ermöglicht, bei dem sie erfährt, was es wirklich mit jener „Ursprache“, der sie ihr wissenschaftliches Leben gewidmet hat, auf sich hat. Die Pointe ist, dass sie doppelt enttäuscht wird, denn erstens kann sie als Professorin ihre Forschungen nicht mit Hinweis auf ein so unglaubwürdiges Erlebnis wie eine Zeitreise revidieren, und zweitens vermag sie, in die Frühgeschichte der Menschen versetzt, die Ursprache zwar zu hören, nicht aber am Gemeinschaftsleben der Horde teilzuhaben. Auf den Status einer stummen Zeugin festgelegt, ist es ihr verwehrt, die Sprache als Medium zu erfahren, in dem jene Gemeinschaft ihrer selbst innewurde und die menschliche Historie begann.

In anderen Erzählungen geht es um „unmögliche Begegnungen“: Ein Mann wandert auf einen Berg, unterwegs gesellt sich ihm ein wenig sympathischer Begleiter hinzu, in dem er schließlich sich selbst erkennt, um 20 Jahre älter geworden. Ein zweiter begegnet dem Tod, der ihm dereinst beschieden sein wird. Und der Reisende im Zug kommt nach und nach dahinter, dass sich niemand anderer zu ihm ins Abteil gesetzt hat als „Gott“ selbst: „Es ist nicht so leicht, sich für die richtige Frage zu entscheiden, die man Gott stellen kann.“ Alle Protagonisten müssen sich in einer unerwarteten Situation behaupten, für die keine ihrer Erfahrungen etwas taugt, sodass sie sich zwischen einem Für und Wider zu entscheiden haben, ohne sich über deren Voraussetzungen und Folgen im Klaren zu sein. So ergeht es einem zwar oft im Leben, für ivković ist es jedoch gerade diese unauflösbare Problematik, die die menschliche Existenz ausmacht.

Meisterstück des Bandes ist der Erzählzyklus „Die Bibliothek“, der den fantastischen Versuchen und logischen Spekulationen, mit denen sich José Luis Borges zeitlebens mit der Bibliothek als Sammlung von Wissen und Träumen, als Archiv des Vergangenen und Laboratorium des Künftigen beschäftigt hat, an Originalität nicht nachsteht. In sechs verschiedene Bibliotheken werden wir eingeführt, eine ist merkwürdiger als die andere, „Die Höllenbibliothek“, „Die vornehme Bibliothek“...

Die „Nachtbibliothek“ entdeckt nur, wer sich verspätet hat und an die verschlossenen Tore der Bibliothek klopft, die er sonst tagsüber zu frequentieren pflegt. Dann wird ihm von einem Bibliothekar, den er noch nie gesehen hat, freundlich aufgetan, als würde er schon lange erwartet werden. Nichts als „Lebensbücher“ sind in der Nachtbibliothek gesammelt, für jeden Menschen steht ein Buch bereit, in dem sein Leben aufgezeichnet ist.

Das erinnert ein wenig an den Roman „Die Enzyklopädie der Toten“ von Danilo Kiš, in dem ein gigantisches Rettungsprojekt entworfen wird, die Enzyklopädie, in der die Namenlosen und Vergessenen Name, Biografie, Schicksal erhalten. In der Erzählung von Zoran ivković wird dem Besucher sogleich sein Lebensbuch vorgelegt, doch weiß er sich zu jenem Mann, dem er darin lesend begegnet, kaum in Beziehung zu setzen. Das ergeht in der „Nachtbibliothek“ allerdings allen so, denn obwohl nichts in ihrem Lebensbuch erfunden ist, verstehen sie ihr eigenes Leben doch nur zu lesen, als hätte ein anderer es für sie geführt. Zoran ivković schreibt Science-Fiction für Leser wie mich, die keine Science-Fiction mögen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.06.2011)

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