Alles Pappe, alles Pampe!

In Feridun Zaimoglus Roman „Ruß“ öffnet sich erst zuletzt der doppelte Boden in einem rätselhaften Vergeltungsdrama. Viel Liebe und Leiden. Vor allem: eine unberechenbare Story, die mit furiosem Showdown in den österreichischen Alpen endet.

Es gibt Bücher mit Anlaufzeit, in die kommt man irgendwie schwer hinein, und spürt man einmal so etwas wie erzählerische Kontinuität, läuft man immer noch Gefahr, wiederrauszufallen, liest man nicht genau: Relativ konturlos sind die Personen, wenig fest umrissen die Handlungsstränge. Wer in Feridun Zaimoglus neuen Roman eintauchen möchte, wird es schwer haben, gleich so etwas wie einen Lesefluss zu finden, der ihn von selbst weiterträgt; es gibt kein verlässliches Textmuster, keinen Hinweis darauf, dasssich irgendwann ein Knoten lösen würde.

Bis zur Seite 100 habe ich immer noch nicht gewusst, wo es eigentlich hingeht. Dabei ist „Ruß“ ein Roman voller Dynamik, schnoddrig und herzhaft ungezwungen, Zaimoglu ein Erzähler, den Konventionen wenig rühren. Vielleicht liegt alles an dem Missverhältnis zwischen Roman und Klappentext: Was in diesem vorweggenommen wird, erschließt sich einem im Buch erst mit Verzögerung – und manches davon auch nur teilweise. Die Hauptfigur bleibt ein unscheinbarer, etwas heruntergekommener Held; mit seinem Schwiegervater betreibt er einen Kiosk in Duisburg und malt Bilder – dabei war Renz einmal Arzt und hatte eine Frau. Die Frau wurde ermordet.

Wann, warum, von wem? Die Information bleibt uns fast vorenthalten. Es wird wenig Konkretes geboten, nur spärliche Verweise, nirgendwo eine Erklärung. Das Spiel mit den Unschärfen mag zwar seinen Reiz haben, ohne operative Anleitung wird es aber zur mühsamen Herausforderung. So nebenbei ist „Ruß“ auch ein Krimi, nur nicht augenscheinlich darauf angelegt, dennoch würde man sich als Leser entsprechende Spannungselemente erwarten. Irgendwie scheint es aber, dass sich Zaimoglu darum bemüht hat, dem Leser zunächst und lange nur ja keinen Suspense zu verschaffen.

Nun könnte man fragen, was soll schon spannend sein an einem Roman mit dem Schauplatz Ruhrpott? So gelungen übrigens dessen Milieuschilderung ist, so sehr ist zu berücksichtigen, dass die Halbwelt von Duisburg samt dem entsprechenden Idiom nicht jedermanns Sache ist. Ruhrpott-Slang, für den man eigentlich ein Glossar bräuchte, undzwielichtige Typen, Trinker und Arbeitslose, das ist nicht gerade, was man sich von einem deutschen Erfolgsroman erwarten würde – und der wird immerhin auf dem Umschlag als „deutsche Saga“ verkauft.

Aber vielleicht ist ja was dran. Milieu und Personal eines Thomas-Mann-Romans lassen sich nur schwerlich ins Heute übertragen; die Gesellschaft ist im Umbruch, auch dieser Renz, seine soziale Herkunft ist ihm gleichsam weggebrochen, seine psychische Befindlichkeit nach dem schon lange zurückliegenden Mord immer noch ein desaströser Zustand, Trauer und Vergeltungssucht sind eins. Und dann ein mysteriöses Motiv, ein „Auftrag“. Renz begibt sich nach Warschau, ein Abstecher ins Ganoven- und Rotlichtmilieu. Der Grund bleibt rätselhaft. Vor allem: Warum hat er diese zwielichtigen Gestalten von nun an an seiner Seite?

Immerhin, dadurch kommt der Roman in Fahrt – jene Unterweltfiguren braucht die Handlung. Die eigentliche Handlung: Rache. Der Mörder von Renz' Frau wird entlassen, da will er nicht zusehen. Wieder Schauplatzwechsel, es geht nach Österreich. Ziel: „Mord muss man mit Mord kühlen.“

Aber bis dahin hat sich der Roman mit viel Nebensächlichem aufgehalten – und einer seltsamen Romanze, die einiges an der Figur dieses Renz erklärt. Die Kellnerin Marja ist geradezu eine logische Ergänzung, beide leben nämlich mit Toten: Marja konnte bisher die Wohnung ihres toten Vaters nicht auflösen, hat keine seiner Sachen weggeworfen; Renz bewahrt zu Hause die Urne mit der Asche seiner Frau auf – mit dem ständigen Verlangen, davon zu kosten. Als Renz und Marja miteinander schlafen, unterhalten sie sich danach über ihr Weiterleben mit den Toten. Ein berührend witziger Dialog entspannt sich: „Wir liegen zusammen und reden über die Toten. / Dann sprechen wir über Hüftgymnastik. / Was? / Alle Frauen, dieich kenne, ob jung oder alt, machen Hüftgymnastik. Anna auch. Anna ist hübsch, sie hat viele Lippenstifte, aber keinen Freund. Also macht sie zu Hause Sport. Sie trainiert auf vollschlank.“

Zaimoglu versteht sich nicht nur auf das Understatement, er ist auch ein Meister der leisen Zwischentöne. Für seine Erzählweise braucht er keine große Dramaturgie, sie kümmert ihn eigentlich wenig, was auch schon wieder souverän ist. Und er kann sich das auch leisten, denn am Ende inszeniert er ein so furioses Finale, dass man plötzlich in jenen Sog gerät, dem man sich beim Lesen so lange vergeblich gewünscht hat.

Am Ende ist sowieso alles anders. Jetzt packt der Autor – bei immer angespannterer Situation – erst recht Witz und Unbefangenheit aus, macht sich gar über Salzburg und seine Bewohner lustig: „Renz probierte zum ersten Mal in seinem Leben eine Mozartkugel. Spuckte aus. Hort der übelsten Österreicher – das war hier. Verblendete pfützenäugige Reiche. Verrottete Seelen. Plumpe Bürger in Kostümen, hammelbeinige Reliquiensammler. Tranken Wein, um sich von Biersäufern abzusetzen. Waren aber Alkoholiker, spätvormittags schon das erste Glas. Sagten: Ein edler Tropfen. Gehemmte Viecher in der Viehstadt Salzburg. Mozart überall, alles Pappe, alles Pampe.“ (So kann man es statt Thomas Bernhard auch machen, und es wäre die erste nichtösterreichische Salzburgbeschimpfung.)

Aber ist nicht längst alles Pappe und Pampe auch im Leben von Renz? „Frau kaputt, ich kaputt.“ Was steht noch an in diesem Leben? Der Mord, den er vorhat, der Mord an dem Mörder – der hat sich nach seiner Entlassung ins Alpine zurückgezogen. Genau dort kommt es zum großen Showdown. High Noon auf der Großglockner-Alpenstraße. Renz hat nicht nur seine zwielichtigen Freunde und eine Waffe mit sich, in der Tasche trägt er lange Zeit auch die Urne herum. Und dann tritt auch noch Marja in seine Nähe. Und womit Renz nicht gerechnet hat: der Mörder, der den Plan durchkreuzt,der am Ende auch noch Licht ins Dunkel der Geschichte bringt.

Die letzten 20 Seiten des Romans gehen schnell, die letzten zwei brennen wie Feuer. Erst jetzt weiß man: Das Eigentliche erschließt sich erst im Nachhinein, das ist eine wesentliche Erfahrung des Lesers. Eine andere ist: dass manches unverständlich bleibt und ebenso wenig nachvollziehbar wie vorhersehbar ist. Ein unberechenbarer Roman, in jeder Hinsicht. ■




Feridun Zaimoglu
Ruß

Roman. 272S., geb., €19,60 (Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.11.2011)

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