Passion und Passage

Reisebücher sind es keine, die Corsofolio-Bände. Ihr Konzept: in der Literatur der Welt und der Welt der Literatur auf Seitenwegen durch Städte zu flanieren. Ein Autor dient jeweils als „Gastgeber“. Nach London lädt Matthias Politycki, nach Paris Georg Stefan Troller.

Reiseführer sind sie nicht. Sie kommen als Appetitanreger daher, die unversehens in die Tiefe ihrer Themen führen. Die Panoramen „Corsofolio“ sind Herbarium und Kaleidoskop, philosophische Betrachtung, Galerie. Eigenwillig, persönlich, vielstimmig fokussieren sie örtliche Leidenschaften. Das macht an Walt Whitman denken: „Unausgesprochene Wünsche von Leben und Landen befriedigt. Du Reisender, segle jetzt zu suchen und zu finden.“

Als „Doppelkopf“ bezeichnen die Hamburger Verleger Groothuis und Lohfert ihre Städtebücher, die intelligent, unkonventionell, aufwendig in die Welt entführen – noch nicht in die ganze, denn der Verlag, in dem sie erscheinen, wurde erst 2010 gegründet. Er hat sich einem Motto verschrieben, dem sich besonders die Reihe Corsofolio verpflichtet fühlt: „Welterfahrung – Herzensbildung“. Das klingt eigentümlich gefühlvoll, ein bisschen altbacken auch. Ist Welterfahrung nicht im Zeitalter von Easy-Jet selbstverständlich, das Herz seit Woody Allen aber nur noch ein launischer kleiner Muskel und seine angebliche Bildung gar etwas für Leute mit Neigung zur Sentimentalität?

„Schatten zerbrechen wie Glas, ich schneide mich an ihnen am Leicester-Square“, beginnt Rüdiger Görner sein erstes von sechs Londoner Bildern über „Traumschutt in der Hyperstadt“. Das klingt nicht gerade nach Courts-Mahler. Es klingt nach einer eigensinnigen Art des Erlebens.

Die Ausgaben von Corsofolio haben ein gemeinsames Konzept. Von ihrem inhaltlichen Anspruch und ihrem Gewicht (im doppelten Sinn) sind sie Bücher, in ihrer Attitüde wirken sie wie ein Magazin. Seriell angelegt, laden sie zum Sammeln ein. Sie bewegen sich in der Literatur der Welt und der Welt der Literatur gleichermaßen auf Seitenwegen, führen weg und über beide hinaus in Nischen, zu anderen Horizonten, in Träume und Erzählungen hinein.

Ein Schriftsteller fungiert auf dieser Reise in eine konkrete Stadt, die immer auch eine Reise in ihr Imaginäres und Symbolisches ist, jeweils als Gastgeber. Er oder sie lädt Kollegen ein. Die Einladungen in ihrer subjektiven Wahl, verbunden mit einem einführenden Essay, präsentieren eine individuellen Sicht auf die Stadt, geben eine Richtung vor. Die Texte der Kollegen dagegen öffnen den Blick in vielfältiger Art. Jeder Band endet mit einem literarischen Journal, das durch die Jahrzehnte, manchmal Jahrhunderte stromert.

Das vermitteln auf anregende Weise die ersten beiden Bände, Paris und London. Warum noch weitere Bücher über die großen Städte der Welt, über die es doch schon so viele Bücher gibt? Eindringlich und überzeugend formuliert der Schweizer Romancier Martin R. Dean in seinem wunderbar eleganten wie querdenkenden Essay über London eine Antwort auf diese Frage: „Großstädte wachsen einem über die Jahre ins Fleisch. Sie spiegeln einen verborgenen Teil der eigenen Biografie. Zuweilen auch den Teil, der nur in den Träumen existiert. Sie sind Bühnen für Lebensexperimente und bieten den Raum und das Versteck, um allen imaginären Verästelungen der eigenen Biografie nachzugehen. Anders als in der Enge der Provinz kann jeder seine abseitige Rolle spielen.“ Die Bände vermitteln durchaus auch ein soziologisches Interesse an ihrem konkreten Objekt. Auf unideologische Weise plädieren sie für das Individuum und seine Entfaltung wie auch für die Reichhaltigkeit, die den verschiedenen Ethnien mit ihren Kulturen, Ästhetiken und Sprachen einer Metropolis innewohnt.

Matthias Politycki, der als Gastgeber für die britische Hauptstadt verantwortlich zeichnet, hat außer Dean noch elf weitere Autoren eingeladen, „Signale aus der Weltmaschine“ London zu geben. Es sind Annäherungen in Form von Betrachtungen, Essays, Spaziergängen, Reflexionen, Erinnerungen, Analysen. Das Spektrum der Sujets im Sujet reicht von Napoleons Totenmaske (Rüdiger Görner) über den Vergangenheitswahn im Stadtbild (Alain de Botton) zu Harold Pinter (Jan Böttcher).

„Mind the gap“, Polityckis Eingangsschritt in die Stadt an der Themse, reflektiert die merkwürdigen Situationen eines (deutschen) Fremden in der an (vieler Art) Fremdem so überreichen Stadt und bemerkt dabei spitz, „das Deutschland des 21.Jahrhunderts scheint in London noch nicht ganz angekommen zu sein“. Auch er spricht, wie Dean, von den „Parallelgesellschaften“ Londons, deren Juxtaposition allerdings von beiden Autoren ohne die im deutschsprachigen Raum übliche negative Konnotation wahrgenommen wird.

Stefanie Schütte, seit über 15 Jahren Modekorrespondentin der dpa, wirft ein flirrendes Licht auf die britischen Exzentriker, die begabten, zuweilen wahnsinnig scheinenden Protagonisten der Londoner Catwalks und Schneiderateliers, ohne die, wie sie schreibt, „die Pariser Mode verloren“ wäre.

Der Duktus der einzelnen Texte divergiert wie die Provenienz und Ausrichtung ihrer Autoren. Auch die Qualität der Texte ist nicht durchgängig auf einem Niveau. Manche sind konzentrierter geschrieben, literarisches Großformat, manche erinnern eher an journalistisches Tagesgeschäft. Informationen gibt es nur nebenbei, zwischen den Zeilen, als Bildunterschrift.

Die Fotografien stehen den literarischen Visionen gegenüber, mischen sie auf, konterkarieren oder orchestrieren sie. Sie fungieren nicht als Textillustrationen. Lose, scheinbar unsystematisch eingeworfene Sequenzen lassen beim Blättern den Eindruck entstehen, man ginge selbst durch eine (fiktive) Straße, deren Bild sich mit jedem Schritt verändert, als Querschnitt durch verschiedene Viertel, durch verschiedene Zeitläufte, gesehen von verschiedenen Augen, reflektiert von einem Bewusstseinsstrom, durch den jedes nur denkbare Thema fließt. Das heißt nach London Paris. Folgt man Martin Deans Reflexionen, ist das im Corsofolio-Konzept geradezu zwingend angelegt, denn die Städte scheinen „über Nervenbahnen miteinander verbunden“.

„Kaum in London angekommen, bewegte sich mein Paris-Bild.“ Der österreichische Schriftsteller, Drehbuchautor und Dokumentarfilmer Georg Stefan Troller, der Frankreichs touristenzernagte Hauptstadt nach dem Zweiten Weltkrieg zum Daueraufenthalt gewählt hat, stellt die Seine-Metropole als Gastgeber vor. Seine Einführung ist eine kleine Soziologie der Pariser und Pariserinnen, eine Art Bestimmungsbrevier, das es möglich macht, die besondere Spezies, die die Stadt bevölkert und die sich von den Londonern, Berlinern oder Wienern so sehr unterscheidet, im angemessenen Licht zu betrachten. Troller, der als heimatloser Paris-Experte und Zeuge verschiedener Zeitläufte auch von Claus Lutterbeck interviewt wird, hat den New Yorker Anwalt und Schriftsteller Louis Begley eingeladen, sowie Peter Stamm, den ebenfalls in Paris lebenden Paul Nizon, Karin Michels und die sich in der ihr eigenen (hinreißend) sanften Ironie ergehenden Anne Weber, auch sie eine in Paris ansässige deutsche Schriftstellerin. Anne Webers Ausflug in die Welt der halbseidenen Artikel und vertrackten Instrumente ist ein kleines ironisches Kunstwerk, kaum geeignet als Wegweiser (wofür sind schon mit rosa Plüsch eingefasste Handschellen oder Tangas gut, die man essen kann), dafür umso amüsanter zu lesen. Abgesehen davon erfährt man hier, dass der französische Staatspräsident Hände schüttelnd zu Wahlkampfzeiten wirklich überall zu finden ist, auch in der Pariser Rue St. Denis: „Ça marche, les affaires?“

Kleine Vignetten wie diese geben Einblick in die Gegenwart der Stadt. Sie jonglieren mit ihren Klischees, lenken von ihnen ab und über zu einer anderen Art, die Stadt oder Städte überhaupt zu sehen. Durch ein Mekka der Träume schlägt der Alltag wie ein Fettfleck durch, der wieder vom nächsten Klischee überlagert wird. Paul Nizon, der seit 1977 in Paris ansässige Berner Romancier, schreibt in langen Sätzen bewundernd (natürlich) über Frauen; Julia Kronberg, auch sie inzwischen in Paris lebend, sucht zwischen Passion und Passage den französischen Mann (zu charakterisieren), und im Journalteil finden sich, durchmischt von Gedichten, die lakonischen Aufzeichnungen der Telefongespräche zwischen Frédéric Beigbeder und Michel Houellebecq.

Gemeinsam haben die so unterschiedlich anmutenden Texte, dass sie nicht nur die Stadt präsentieren, sondern auch die eigentümliche Sicht ihrer Autoren. Sie dokumentieren ebenso, was sich im Blick oder der Erfahrung des Einzelnen verfangen hat, wie das, was sein könnte, und sind insofern „Gebrauchsanweisungen“ für Digressionen vom üblichen Trampelpfad – nicht nur topografisch, auch mental. Das Wundern, Verweilen und Betrachten von Phänomenen aus einer unverallgemeinerbaren Sicht ist genau das Prinzip, dem die Autoren folgen: Neigungen und Abneigungen bestimmen die literarischen Überlegungen wie die archäologischen Funde.

Es ist eine Reise im doppelten Sinn: eine in eine Stadt, die es so vorher nicht gegeben hat, und in eine, die es außerhalb dieses Buches nicht gibt. Dabei mäandern die reichlich eingestreuten Fotografien zwischen vorgestern, gestern und heute, fangen aber gerade nicht die Sehenswürdigkeiten ein, sondern schlagen sich ins Dickicht der Hinterhöfe, kriechen aus den Archiven, zeichnen sich nicht durch sensationelle Motive aus, sondern durch den Charme der Beiläufigkeit: Straßenecken, Zufallsblicke, bizarre Konstellationen, ungewöhnliche Funde.

Die Bücher bezeugen Leidenschaften. Sie malen Sehnsuchtsorte und erzählen davon, dass das, wonach man sich sehnt, im Augenblick des Erblickens bereits wieder kippt. Das Plädoyer, das sie halten, selbstbewusst, eloquent, ist das für eine bestimmte Art zu reisen, nach innen, nach außen, in den Bahnen der Vorstellung und über wirkliche Straßen, langsam, eigensinnig, für sich allein. Ihre Lektüre führt weg von den ausgetretenen Trassen der Art Denken, das mit der Erfindung der Effektivität begann. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.12.2011)

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