Wo der Geist wohnt

„Inkognito“: Der Neurowissenschaftler David Eagleman taucht hinab in die Tiefen des zerebralen Meeres, also unterhalb dessen, was uns tatsächlich bewusst ist. Doch wie aus bewusstlosen Neuronen Bewusstsein entsteht, kann er ebenso wenig erklären wie seine Fachkollegen bisher.

In den letzten Jahren habe ich eine Reihe von populärwissenschaftlichen Büchern über unser Gehirn besprochen, alle geschrieben von Kapazitäten auf ihrem Gebiet. Während sich der jeweilige Autor gar nicht genug über das Wunderwerk „Gehirn“ auslassen konnte – meistens bestgelaunt, als ob das, was er zu sagen hat, ein Riesenspaß sei –, wurde ich zusehends unwirsch über den unreflektierten Reduktionismus nach dem Motto: „Wir sind unser Gehirn.“ Die modische Theorie, die dem zerebralen Frohsinn beigegeben war, ärgerte mich, weil ich trotz des üblichen Fachchinesisch zu verstehen glaubte, dass uns mit ein paar nebulösen Imponierbegriffen die neueste Weltformel des Gehirns aufgetischt werden sollte.

Das jüngste Erzeugnis dieses Genres hebt sich davon in Nuancen ab. David Eagleman, Jahrgang 1971, nennt unser Gehirn das „komplexeste Material, das wir bisher im gesamten Weltall entdeckt haben“. Auch Eagleman ist eine Kapazität, Leiter des Forschungslabors am Baylor College of Medicine in Houston, Texas, außerdem Bestsellerautor – sein Buch „Fast im Jenseits“ wurde in 27 Sprachen übersetzt, dramatisiert, vertont – und darüber hinaus ein Visionär. Er glaubt, wie er 2009 der Internetzeitschrift „Edge“ verriet, dass noch zu seinen Lebzeiten das „Herunterladen von Bewusstsein“ Wirklichkeit werden und dies der Beginn menschlicher Unsterblichkeit sein müsste. Sind erst exakte Siliziumkopien der Struktur und Algorithmen unseres Gehirns herstellbar – was laut Eagleman eines Tages zweifellos möglich sein wird –, dann „sollte der sich daraus ergebende Geist identisch sein“ mit jenem, der ursprünglich in unserer sterblichen Körpermaschine wohnte.

Ich gestehe freimütig, dass mich derlei kindische Fantasien nicht gerade freundlich stimmten gegenüber ihrem Autor, dessen Werk „Inkognito“ eben erschienen ist. Darin geht es um die – Plural – „geheimen Eigenleben unseres Gehirns“. Das heißt, es geht um nichts, was nicht schon x-mal offenbart und erörtert worden wäre, nämlich darum, dass unser Bewusstsein, gemessen an der Gesamtaktivität des Gehirns, ein Phänomen am Rande ist, vergleichbar der Schaumkrone auf der Brandung eines Meeres. An dieses Bild knüpfen sich – auch das gehört zum Kanon der Gehirnwunderliteratur – einige Bemerkungen zur traditionellen Selbstüberschätzung des Menschen, der seine Würde auf den „Geist“ gründete. Vom Geist galt seit René Descartes, er sei sich, dank der Leistungen des Bewusstseins, selbst transparent.Der größte Teil des Buches von Eagleman taucht – um im Bild zu bleiben – hinab in die Tiefen des zerebralen Meeres unterhalb dessen, was uns als Schaum auf der Brandung tatsächlich bewusst ist. Dieser Teil des Buches ist für den Laien erfreulich. An einer Fülle anschaulicher und nicht selten überraschender Beispiele werden jene Zaubertricks unseres Gehirns vorgestellt, von denen wir kaum eine oder gar keine Ahnung hätten, würden sie nicht durch die unermüdlichen Forscherteams der Neurowissenschaft ans Licht geholt.

Besonders intensiv widmet sich Eagleman dem schwer verständlichen Umstand, dass unser Gehirn im Wesentlichen ein geschlossenes System ist. Zwar dringen von außen laufend Informationen ein, die aber stets erst in die chemische „Sprache“ der Neuronen übersetzt und durch systemeigene Mechanismen der Verknüpfung, Rückkoppelung und Verrechnung bearbeitet werden müssen. Nur ein winziger Bruchteil der Hunderte von Milliarden neuronaler Aktivitäten wird uns bewusst. Dabei haben die Sinnesdaten, die die Basis unserer Erfahrungen bilden, mit den Dingen, wie sie „in Wirklichkeit“ existieren, oft kaum etwas zu tun. Doch nur so, durch radikale Vereinfachung, Selektion und Aussparung der uns umgebenden Komplexität, können wir überleben, ohne die vermeintlichen Leistungen zu missen, die mit dem Besitz eines Bewusstseins, noch dazu eines ichhaften, verbunden sind.

Freilich stellt sich aufmerksamen Lesern mehr und mehr die Frage: „Wozu überhaupt ein Bewusstsein, zumal eines, das sich seiner selbst bewusst ist?“ Worauf es nämlich beim Überleben ankommt, sind nicht irgendwelche Empfindungsqualitäten, sondern einzig deren auswertbare Information. Wenn Goethes greiser Faust räsoniert: „Zum Augenblicke dürft' ich sagen: Verweile doch, du bist so schön“, dann ist das aus einer existenziellen, ästhetischen oder metaphysischen Perspektive heraus gesprochen. Doch das, was Fausts Augenblick an überlebensdienlichen Daten enthält, könnte Fausts Gehirn ebenso gut, ja besser registrieren, speichern und prozessieren, wäre da kein Bewusstsein mit all den Ablenkungen der Sinnlichkeit („verweile doch“) und all den Illusionen, die mit dem sinnlichen Erleben einhergehen („du bist so schön“).

Eagleman überspielt dieses Problem, indem er – was neuerdings eine Pflichtübung zu sein scheint – darauf hinweist, dass sich das Bewusstsein vermutlich prinzipiell nicht auf sein materielles Substrat, das Gehirn als Organ, reduzieren lässt. Und wie viele seiner Kollegen bemüht auch Eagleman das Wort „Emergenz“. Damit wird angedeutet, dass die bewussten Phänomene, die aus der Funktionsweise bewusstloser Neuronen hervorgehen, etwas grundlegend Neues darstellen. Statt nun aber darin eine unüberwindbare Schranke physiologischer Erklärungen des Bewusstseins zu diagnostizieren, wird der Eindruck erweckt, durch den heftigen Gebrauch des Wortes „Emergenz“ sei das Mysterium der Emergenz bereits erklärt. Ein Witz!

Tatsächlich verspricht der Klappentext dem Leser, Eaglemans Buch sei ein „Riesenspaß“. Und der Autor bekennt: „Neurowissenschaftler witzeln gern.“ Mir blieb übrigens schleierhaft, woher diese Witzelsucht kommt, bis ich in E. L. Doctorows „City of God“ las, dass die Kosmologen, mit ihren schwarzen Löchern und weißen Zwergen, ihren Wimps und Machos, ihrem Big Bang, Big Crunch und Big Freeze, offenbar von einem ähnlichen Zwang zur Infantilität getrieben sind.

Doctorow lässt seinen Protagonisten, einen skeptischen Gottesdiener, über die Wissenschaftswitzbolde sagen: „Ich denke, denen fehlt einfach jedes Gespür für das, was heilig ist. Ich denke, dass der ungebildete Priester einer prähistorischen Religion, der dem lebenden Opfer das Herz aus dem Leib reißt und es, noch pulsierend, in seinen blutverschmierten Händen hält, ein besseres Urteilsvermögen besitzt.“ Eine fragwürdige Diagnose, gewiss, aber eine, der ich angesichts der Hirn-mit-Spaß-Literatur unserer Tage einiges abgewinnen kann. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.02.2012)

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