Die Haft macht hart

Brigitte Halbmayr ist Hermann Langbein nie begegnet. Und doch gelingt es ihrer Biografie über den Schriftsteller und KZ-Häftling, ihm nahezukommen – durch Quellenstudium und Befragen von Lebensgefährten.

Es gibt Menschen, die bleiben einem gegenwärtig, auch wenn man sie nur selten gesehen oder getroffen hat. Hermann Langbein ist einer von ihnen – dass er am 18. Mai hundert geworden wäre, überrascht weniger als die Tatsache, dass er schon vor mehr als 16 Jahren verstorben ist.

Seine gefühlte Lebenszeit reicht nämlich weit über den Todestag hinaus, und das verrät schon einiges über die Wirkungskraft dieses zur Gemeinschaftlichkeit entschlossenen Einzelgängers: Ohne Langbein wäre es nur in abgeschwächter Form zur wissenschaftlichen und juristischen Aufarbeitung der Naziverbrechen gekommen. Ohne ihn wären die politischen Instanzen noch roher mit den Überlebenden der deutschen Vernichtungslager umgesprungen. Ohne ihn wäre der Massenmord an den Zigeunern erst später ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Ohne ihn wäre es weder zur Gründung der Gesellschaft für politische Aufklärung noch zur – für Europa einzigartigen – „Zeitzeugen“-Aktion an österreichischen Schulen gekommen. Ohne seinen Zuspruch, seine Hilfe wären jüngere Historiker und Sozialwissenschaftlerinnen vielleicht in ihrem Bemühen erlahmt, die widerspruchsvolle Geschichte des antifaschistischen Widerstandes zu erforschen. Sie verehrten ihn nicht nur seines Erinnerungsvermögens, seiner Tapferkeit, Beharrlichkeit und Selbstlosigkeit wegen.

Dabei galt er als zurückhaltend, emotionsarm, ungemein sachlich, auch und gerade in der Beschäftigung mit seinem Lebensthema Auschwitz. Ein unveröffentlichter oder unfertiger Roman Robert Schindels über einen Mann, der Langbein nachempfunden ist, trägt den Arbeitstitel „Der Harte“. Den behaupteten Wesenszug hat Hermann Langbein nicht bestritten, sondern kurz nach der Rückkehr aus dem KZ Neuengamme in seiner Geburtsstadt Wien mit einem schlüssigen Satz gerechtfertigt: „Wer in Auschwitz war, hat für immer eine Hornhaut auf der Seele.“

Nun legt die Sozialwissenschaftlerin Brigitte Halbmayr Langbeins Biografie vor. Obwohl sie sich seit Langem mit der Realität deutscher Konzentrationslager beschäftigt und zu jenen jüngeren Frauen gehört, die in die Lagergemeinschaft Ravensbrück gleichsam hineingewachsen sind, ist sie ihrem Protagonisten nie begegnet. Hätte sie das nicht im Vorwort erwähnt – man würde es nicht vermuten, denn ihr Buch ist ein Musterbeispiel dafür, wie man durch sorgfältiges Quellenstudium und das Befragen von Angehörigen, Freunden, Mitstreiterinnen einem Menschen nahekommen und doch die gebührende Distanz halten kann – zu seinem Verhalten, zu seinen Entscheidungen und zu den Zwängen, denen er ausgesetzt war. Wenn man von wenigen Floskeln absieht, die er vermieden hätte, ist Halbmayr auch in ihrem sprachlichen Vermögen auf Langbeins Höhe: Sie versteht es, die komplizierten Zusammenhänge in seinem Leben verständlich darzustellen, und verliert sein persönliches Schicksal nie aus den Augen, wenn sie – wie in den Abschnitten über den Spanischen Bürgerkrieg, das Lager Auschwitz und die politischen Fehden in den Opferverbänden – weit ausholen und die vielen lebensgeschichtlichen Fäden weiterspinnen muss.
Sie findet im Wust des Geschriebenen immer die richtigen Zitate, die Langbein charakterisieren. Seine Selbstkritik, in einem Brief aus Spanien 1938, dass er „kein guter Kamerad“ sei, weil er kein wirklich freundschaftliches Verhältnis zu seinen Gefährten herstellen könne; sein Bekenntnis und sein Schwur, im KZ Dachau, dass ihm „die satte Ruhe des Prominenten“, also des privilegierten Funktionshäftlings, fehle und er sie nie bekommen wolle, „das verspreche ich mir selbst“; seine Aussage beim Frankfurter Auschwitz-Prozess 1964 (der ohne ihn vermutlich nicht zustandegekommen wäre), dass man in Auschwitz als Häftling furchtbar hart geworden sei „so hart, dass man manchmal Angst hatte, ob man wieder ins normale Leben zurückfindet“; seine Enttäuschung darüber, dass diese erträumte Normalität nach 1945 auch „nicht der Himmel“ war.

Sein im Gespräch mit Anton Pelinka geäußertes Credo, immer nur das zu tun, „was man selber verantworten kann“. Letzteres, das früh verinnerlichte Verlangen nach Gewissenhaftigkeit, hat Langbeins Leben geprägt und ihm einen besonderen Glanz verliehen. Die Tatsache auch, dass er in seiner Arbeit keine der Wirkung, der Anerkennung oder dem Gelderwerb geschuldeten Präferenzen gesetzt hat. Er war immer – also vieltausendmal – bereit, ehemaligen Häftlingen oder ihren Angehörigen zu helfen, durch das Schreiben von Anträgen, das Bemühen um eine Reiseerlaubnis oder einen Kuraufenthalt und das Übersetzen von Briefen. Ich bin im Ausland als Österreicher am häufigsten – und mit größter Dankbarkeit, als wäre es mein Verdienst, sein Landsmann zu sein – auf Hermann Langbein angesprochen worden.

Halbmayr nennt ihr Werk „eine politische Biografie“. Aber sie zeigt auch den „Familienmenschen Hermann Langbein“, sie verschweigt nicht das unerfüllte Leben seiner Frau (unerfüllt, weil der Einsatz für andere für ihn Vorrang hatte), ist aber trotzdem diskret, auf eine gute, rechtschaffene Art. Dem Buch hat sie ein Zitat des argentinischen Autors Marcelo Figueras vorangestellt: „Das Leben ist ungerecht, aber es hat seine Momente.“ Es hat auch seine Helden. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.05.2012)

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