Von Bologna nach Brüssel

Oskar Negts Abrechnung mit der Bildungsreform der EU. Es ist was faul im Bunde Europa – nicht nur ökonomisch, sondern auch kulturell und politisch.

Es ist was faul im Bunde Europa – nicht nur ökonomisch, sondern auch kulturell und politisch. Die jüngsten Wahlen in europäischen Ländern beweisen das schwindende Vertrauen der Bürger des Kontinents in die Problemlösungskompetenz ihrer politischen Eilten. Für den deutschen Soziologen Oskar Negt kommt das nicht von ungefähr, lässt doch die „allseits geforderte Sparökonomie die Strukturen und Mechanismen völlig intakt, die für die gegenwärtige Misere verantwortlich sind“. Die Menschen glauben den „Realpolitikern“ die Alternativlosigkeit ihrer Konzepte aber nicht mehr, lautet Negts Befund in seinem Essay „Gesellschaftsentwurf Europa“.

„Tag und Nacht sind wir mit ökonomischen Problemen befasst, obwohl doch sichtbar ist, dass unsere Gesellschaften vor Reichtum überquellen und die akkumulierten Güter uns daran hindern, über kulturelle Zwecke, Sinnfragen und erfolgreiche Lernprozesse nachzudenken.“ Negt wehrt sich gegen die betriebswirtschaftliche Verengung des Vernunftbegriffs, der ein Erbe der Aufklärung ist. „Für nichtdemokratische Gesellschaftsordnungen reicht es aus, wenn das ganze Wissenschafts- und Bildungssystem darauf abgestellt ist, den leistungsbewussten Mitläufer mit der nötigen Qualifikation auszustatten“. Für Bürger eines so komplexen politischen Gebildes wie die EU genügt es aber nicht, eine Masse autoritärer und autoritätshöriger Menschen heranzuziehen.

Mit dem Bologna-Prozess geht Negt deshalb hart ins Gericht. Diese Bildungsreform widerspricht dem, was Kant und Humboldt an „Aufklärung“ wollten: nämlich Bildung „als eine Art Lagerhaltung, die aufbewahrt, was man nicht unmittelbar anwenden kann und was man auch nicht sofort braucht, was aber in der Lebensperspektive notwendige Potenziale der Weltauffassung bewahrt“.

Musilscher Möglichkeitssinn

Wenn Ausbildung und Persönlichkeitsbildung auseinanderklaffen, wenn nur Gedächtnisleistungen abverlangt werden statt reflektiertes Denken, so hat das Auswirkungen auf das Gemeinwesen, meint Negt. Solcherart werden Eliten produziert, die nichts zur Lösung unserer zentralen Lebensprobleme beitragen. Gerade in einer sich erst entwickelnden europäischen Gesellschaftsordnung täte der Musilsche Möglichkeitssinn not, das Denken in Alternativen. Abgesehen davon, dass demokratiegefährdend ist, wer Politik für eine Angelegenheit von Eliten hält.

Um einen kollektiven gesamteuropäischen Lernprozess in Gang zu bringen, schlägt Negt deshalb die demokratische Form der Erwachsenenbildung vor: „Erwachsenenbildung mit dem Ziel der Selbstfindung einzelner Kulturen halte ich für einen entscheidenden Posten in der Konstituierung einer demokratischen und zivilen Gesamtordnung Europas.“ Damit doch noch zusammenwächst, was zusammengehört. Die Analyse des Hannoveraner Soziologen steht in bester Frankfurter Tradition. In der Diagnose ist sie luzid. Ob jedoch die vorgeschlagene Therapie hinreichend sein wird, damit wir Europäer nicht zu Idiotes werden (im Griechischen der Privatmann, also derjenige, der sich nicht um das Gemeinwesen kümmert), sei dahingestellt. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.05.2012)

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