Von wegen: nichts gewusst!

Der Justizinspektor Friedrich Kellner war zwar NS-Gegner, funktionierte aber doch als Rädchen im System. Heimlich schrieb er abends ein Tagebuch und machte sich Gedanken über die Ereignisse.

Der deutsche Historiker Egon Flaig, Jahrgang 1949, argumentierte vor fünf Jahren in der Zeitschrift „Merkur“ gegen die Prämisse von der Singularität des Holocaust: „Rein logisch ist alles Existierende singulär, weil die Bedingungen des Existierens für zwei Dinge unmöglich dieselben sein können, ja, weil diese Bedingungen sich für ein und dasselbe Ding bereits geändert haben, während ich diesen Satz schreibe.“ Seine Thesen erregten die Öffentlichkeit aber erst so richtig, als er sie im August 2011 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ in einem Rückblick auf den sogenannten Historikerstreit in modifizierter Form wiederholt hat. Der Satz, der vor allen anderen empört hat, lautet: „Und wenn ich behaupte, die athenische Demokratie sei ebenso einzigartig wie die Shoa, dann kann ich dafür einen guten Grund nennen: Sie ist nämlich für mich bedeutsamer als die Shoa.“

Kein Zweifel: Egon Flaig hat ausgesprochen, was viele Menschen denken. Für sie ist alles Mögliche, vom Rosenbeet im Vorgarten bis zur Verkehrsberuhigung ihres Wohnviertels bedeutsamer als die Shoa. Und sie wollen nicht einsehen, warum sie 67 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Herrschaft, an der sie zum größten Teil weder passiv noch gar aktiv beteiligt waren, mit dem Völkermord an den Juden belästigt werden sollen. Dass Flaig als Vergleich mit dem Warschauer Ghetto kein besseres Beispiel für Singularität einfällt als der Rotz in seinem Taschentuch, zeugt nicht gerade von Pietät den Opfern des Holocaust gegenüber. Man könnte auch auf die Idee kommen, dass er sie damit verhöhnen will. Aber dass ihm und seinen Zeitgenossen andere Dinge wichtiger und nicht weniger singulär erscheinen als eben die systematische Ermordung eines Kollektivs, zu dem sie selbst nicht gehören, ist, wenn nicht moralisch, so doch psychologisch nachzuvollziehen.

Wenn der Holocaust nicht singulär oder nur ebenso singulär ist wie andere Dinge auch, gibt es keinen Grund, sich mehr mit ihm auseinanderzusetzen als mit anderen Dingen. Auch Henryk M. Broder hat sich, Flaig scheinbar zur Seite springend, zur Sache geäußert. Wenn der Holocaust singulär war, argumentiert er, „dann muss man auch nicht befürchten, dass er sich wiederholen könnte“. War er es aber nicht, „dann müsste man die Drohungen, die der iranische Präsident gegen Israel ausstößt, ernst nehmen, statt sie so zu bagatellisieren“. Das ist weniger provokant als dämlich. Denn niemand behauptet, dass, was bisher historisch singulär war, es in Zukunft bleiben müsse. Selbst aber, wenn man die Singularität des Holocaust für eine wenig hilfreiche Konstruktion hält, wenn man meint, die Genozide an den Armeniern oder an den Indianern ließen sich damit vergleichen – schließlich hängt es lediglich vom Abstraktionsniveau ab, ob Vergleiche plausibel erscheinen oder nicht –, folgt daraus nicht notwendig, dass man sich mit der Shoah zu viel, sondern vielleicht nur, dass man sich mit den Ausrottungen der Armenier und der Indianer zu wenig beschäftigt hat.

Singulär oder wiederholbar?

Umso mehr muss es erstaunen, dass das Thema des Holocaust, ob er nun als singulär zu betrachten ist oder nicht, auch zwei Generationen nach seinem Vollzug noch das Denken und Fühlen vieler Menschen in Anspruch nimmt. Sie sähen die Angelegenheit gern als erledigt, aber es gelingt nicht. Irgendetwas muss es mit dem Holocaust, mit seinen Opfern und seinen Verursachern auf sich haben, was über das historisch gewordene Ereignis hinausweist und die Grundlagen des menschlichen Daseins betrifft. Und wenn der Widerstand gegen die Erinnerung so mächtig wie gerade bei diesem Thema ist, muss es doch Schichten des Bewusstseins berühren, die tiefer liegen als jene, mit denen das Tagesgeschäft bewältigt wird.

Gleich nach 1945 hat sich als häufigste Entschuldigung für die Frage, wie das möglich gewesen sei, wieso man das nach 2000 Jahren christlicher Sozialisation in einem hochzivilisierten Land zugelassen habe, die Behauptung etabliert, man habe davon nichts gewusst. Bücher wurden geschrieben, die zu belegen versuchten, dass das nicht ganz stimmen könne, aber beweisen konnte man nur in den Fällen weniger Funktionäre, was sie tatsächlich gewusst oder sogar zu verantworten hatten. Was angesichts der Verbrechen des Nationalsozialismus so schwer zu begreifen ist, ist die Tatsache, dass es auch in Diktaturen, auch in Verbrecherstaaten einen Alltag gibt, ein mehr oder weniger „normales Leben“, und dass jene Mehrheit, die sich nicht für Politik interessiert, die selbst nicht von Verfolgungen betroffen ist, tatsächlich vieles nicht unbedingt wahrnimmt, was um sie herum geschieht. Ab wann müsste man reagieren, aufschreien, handeln? Leben nicht selbst wir, im eigenen Land und global sowieso, inmitten von allerlei Äußerungen von Unrecht und Unmenschlichkeit, die wir, trotz Fernsehen und Internet, nicht zu bemerken vorgeben, gegen die wir jedenfalls nichts unternehmen?

Was konnte man in den Jahren des Nationalsozialismus wissen? Darüber gibt jetzt ein Dokument authentisch Auskunft, das man unter dem Gesichtspunkt der Wahrheitsfindung jenseits von Lügen und Rationalisierungen als Sensation bezeichnen darf. Sein Autor, Friedrich Kellner, war kein Opfer, kein Jude, kein „Zigeuner“, kein Kommunist und kein Widerstandskämpfer. Bei ihm trifft die beliebte Ausrede, da beklage sich einer bloß, weil er nicht die Option hatte, zu den Tätern zu gehören, ins Leere.

Friedrich Kellner war Justizinspektor in einem hessischen Amtsgericht, ein Gegner zwar des Nationalsozialismus und doch zugleich ein Rädchen im System. Aber er hat sich seinen kritischen Verstand nicht verbieten lassen. Von 1939 bis 1945 führte er Tagebuch und schrieb darin nieder, was er nicht sagen konnte, wohl aber denken. Mehr als 900 eng bedruckte Seiten füllen seine Aufzeichnungen, die ein Team (leider ohne Register) bei Wallstein veröffentlicht hat. Darin ist der Holocaust nur ein Detail. Was nämlich über der Frage nach der Einmaligkeit vergessen wird, ist, dass der Genozid an den Juden unauflösbar mit den Menschheitsverbrechen des Zweiten Weltkriegs und einem der schrecklichsten Terrorregime der Geschichte verbunden ist. Sie stehen für Kellner im Vordergrund, und er lässt keinen Zweifel daran, wer dafür verantwortlich ist.

1885 geboren, war Kellner zur Zeit der „Machtergreifung“ kein junger Mann mehr. Seine politischen Überzeugungen hatten sich schon in der Monarchie und in der Weimarer Republik herausgebildet und gefestigt. Das galt freilich auch für viele Generationsgenossen, die nach 1933 dennoch, sei es aus Überzeugung, sei es aus Opportunismus, zu den Nationalsozialisten überliefen und deren Verbrechen unterstützten, billigten oder zumindest duldeten. Was sie offenbar für normal hielten, was für sie, mit den Worten Egon Flaigs, so einmalig war wie der Rotz im Taschentuch, kann man bei Friedrich Kellner nachlesen.

Am 15.Dezember1941 schreibt er in sein Tagebuch: „Es verlautet, dass die Juden einiger Bezirke irgendwohin abtransportiert werden. Die Nationalsozialisten sind stolz auf ihre Tierschutzgesetze. Aber die Drangsale, die sie den Juden angedeihen lassen, beweisen, dass sie die Juden schlechter als die Tiere gesetzlich behandeln.“ Auch zu einer Debatte, die erst lange nach seinem Tod im Jahr 1970 die Gemüter erregt hat, hat Kellner einen Beitrag geleistet. Zu der Hoffnung, eine militärische Revolution würde dem Nationalsozialismus eines Tages den Garaus machen, kommentiert er im November 1943: „Es hat sich aber gezeigt, dass die Offiziere der neuen Wehrmacht und die führenden Personen des ,Dritten Reiches‘ eine festgefügte Gemeinschaft bilden. Der eine Teil schützt und stützt den anderen, und jeder heimst seine Vorteile ein.“ Am 7.Mai 1945 verwahrt sich Kellner gegen die Kollektivschuldthese. Aber er ergänzt: „Die moralische Schuld an den in den Konzentrationslagern begangenen Untaten trifft allerdings einen sehr großen Kreis deutscher Menschen. In erster Linie alle Parteimitglieder der NSDAP sowie alle Befürworter des nationalsozialistischen Systems.“

„Warum sind wir so tief gesunken?“

Der dokumentarische Wert der Tagebücher wird noch dadurch gesteigert, dass Friedrich Kellner darin, gegen Kriegsende zunehmend, aktuelle Zeitungsausschnitte eingeklebt hat. Sie gebieten jenen Einhalt, die Kellners Kritik seiner subjektiven Betrachtungsweise zuschreiben wollen. Der heutige Leser kann überprüfen, was seinerzeit nicht nur ihm, sondern jedem Zeitungsleser vorlag, was als Propaganda auch für den letzten Deppen durchschaubar sein musste und dennoch geglaubt wurde. Das Zitat als Methode. Es entblößt sich selbst. Jedenfalls für jeden, dessen Hirn nicht, wie Kellner schon im ersten Eintrag vom 26.September 1938 notiert, „vernebelt, verdunkelt“ ist.

So meldet eine Zeitung am 14.April 1943 das Todesurteil gegen den 47-jährigen Oskar Uebel aus Wien. „Die Todesstrafe ist bereits vollstreckt worden.“ Das Vergehen: Oskar Uebel hatte „in seiner Wohnung mit mehreren jungen Männern in 30 bis 40 Fällen fortgesetzt feindliche Auslandsender abgehört“ und das Gehörte „dann mit ihnen in deutschfeindlichem Sinne“ besprochen. Was geschah eigentlich nach 1945 mit jenen, die Uebel denunziert haben?

Kellner ist kein großer Stilist. Aber es dürfte ihm ernst damit gewesen sein, dass er auf Leser seiner Tagebücher nach dem Ende des Nationalsozialismus hoffte, also nicht nur für sich selbst schrieb und daher literarische Mittel einsetzte wie die Ironie, die Hyperbel, die rhetorische Frage. „Warum sind wir als Volk eigentlich so tief gesunken?“

Den Hetzartikel einer Leni Hieke-Witkowski im Mai 1944 kommentiert Friedrich Kellner wie folgt: „Das ist unverfälschter nationalsozialistischer Geist. Dieser Geist wird noch lange nachklingen. Es wird die schwierigste Arbeit sein, diese Menschen zu heilen. Die Zukunft wird sie praktisch belehren. Ob sie aber geheilt werden, davon bin ich heute noch nicht überzeugt. Es handelt sich um eine geistige Erkrankung. Und da ist eine Heilung bekanntlich sehr schwer, wenn nicht gar ausgeschlossen.“ Friedrich Kellner sollte recht behalten. ■



Friedrich Kellner
„Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne“

Tagebücher 1939–1945. Zwei Bände. 1128 S., geb., €61,60 (Wallstein Verlag, Göttingen)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.05.2012)

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