Virtuelles globales Paradigma. Bingo!

Was aus dem guten alten Zahlenlotto alles geworden ist! Vom großen Unterschied zwischen dem ruralen Kuhfladen- und dem intellektuellen Bullshit-Bingo.

Bingo halten Sie wahrscheinlich für ein Kinderspiel. Weit gefehlt. Die Bingo-Urform mag ja erwachsenen Spielern wirklich relativ wenig Raum für geniale Spielzüge eröffnen: ein Zahlenlotto, bei dem jeder eine Karte vor sich hat, auf die in fünf Reihen je fünf Zahlen zwischen 0 und 100 gedruckt sind (natürlich bei jedem in anderer Auswahl und Anordnung). Jemand zieht Zahlen aus einem Hut, liest sie vor, und wer sie auf seiner Karte findet, streicht sie durch. Wer als Erster eine waagrechte, senkrechte oder diagonale Fünferreihe solcher Treffer vorzuweisen hat, ruft „Bingo“ und hat gewonnen. In England oder den USA ist das ein Hit für jedes Alter, bei Kinderjausen ebenso gefragt wie beim geselligen Abend im Pfarrheim.

Bingo gibt es aber auch in weniger kindlichen Abwandlungen. Roadkill-Bingo etwa. Das sind im US-Spielwarenhandel erhältliche Bingo-Karten für die Autoreise. Statt Zahlen ist aufgedruckt, was man so am Straßenrand sehen kann: Müll, Autoreifen, Schuhe, aber vor allem tote Tiere – Hasen, Schlangen, Waschbären, Stinktiere, Eichhörnchen, Katzen und jener undefinierbaren platt gefahrene Kleintier-Brei, der in diesem Spiel „Urk“, auf Deutsch etwa „Würg“ heißt. Wer so etwas sieht, hakt es ab, wer als Erster eine Reihe abgehakt hat, hat gewonnen. Kinder und Erwachsene gleichermaßen würden „die Geschmacklosigkeit des Roadkill-Bingo schätzen“, meint der Hersteller, empfiehlt aber doch feinfühlig ein Mindestalter von vier Jahren.

Kein Alterslimit, aber eher Appeal für schlichte ältere Semester hat Kuhfladen-Bingo. 2002 soll es im burgenländischen Rust erstmals in Österreich stattgefunden haben. Das Prinzip: Eine Weide wird in Felder aufgeteilt, und die Spieler wetten darum, auf welches Feld der erste Kuhfladen einer vom örtlichen Bauern gestellten bovinen Glücksfee, meist mit Namen Lisa, Alma oder Frieda, fällt. Das ist aber unter Tierfreunden umstritten – verletzt es nicht die Würde der sanftäugigen Wiederkäuer, unter dem erwartungsvollen Blick der gaffenden Masse ihre Notdurft verrichten zu müssen? – und außerdem gar kein richtiges Bingo, eher ein Roulette.

Semantisch ähnlich, aber doch ganz anders ist Bullshit-Bingo. Das ist nun ein echtes Bingo und definitiv ein Spiel für Erwachsene, nicht etwa wegen rüder Sprache oder obszöner Inhalte, sondern wegen seiner Intellektualität. Das Spiel soll helfen, langweilige Sitzungen oder Vorträge zu überstehen. Auf der Bingo-Karte stehen daher keine Zahlen oder Stinktiere, sondern Phrasen und beliebte Schlagwörter (weswegen es auch Buzzword-Bingo genannt wird): Synergie, Kundennutzen, Paradigma, Benchmark, ergebnisorientiert, proaktiv, kommunizieren, global, Zeithorizont, Win-Win-Situation, Zielgruppe, Projekt, Marktführer und so weiter. Die Mitspieler hören voller Aufmerksamkeit dem darob ahnungslos erfreuten Redner zu – bis einer als Erster eine Reihe abgehakt hat und „Bingo“ ruft (oder, um seinen Job nicht zu gefährden, flüstert).

Laut einem Artikel auf der Titelseite des „Wall Street Journal“ soll Bullshit-Bingo 1993 von Tom Davis, einem der Gründer der Softwarefirma Silicon Graphics in Kalifornien, erfunden worden sein. Dieser ist aber nur geständig, ein Computerprogramm zur Generierung von Bullshit-Bingo-Karten verfasst zu haben. Das Spiel selbst habe es davor schon gegeben. Eine glaubwürdig überlieferte Partie gab es im Jahr 1996, als der damalige Vizepräsident Al Gore in Boston eine Rede bei der Jahres-Abschlussfeier der Technik-Universität MIT hielt. Studenten verteilten davor Bingo-Karten mit Begriffen wie legacy, environment, infrastructure, virtual etc. Gore scheint davon gewusst zu haben, denn als während seiner Ansprache plötzlich in einer Ecke des Saals Begeisterung aufbrandete, unterbrach er kurz und fragte: „Habe ich ein Buzzword gesagt?“

Ansonsten bekommt man allerdings den Eindruck, dass viele mehr so tun, als hätten sie Bullshit-Bingo schon gespielt, als dass es tatsächlich gespielt worden wäre. Unzählige Internetseiten erklären das Spiel, auf den meisten von ihnen findet man Erlebnisberichte, die seltsamerweise immer gleich lauten. Es beginnt stets mit „I had been in the meeting for only five minutes when I won“ beziehungsweise „Ich war gerade mal fünf Minuten in der Besprechung, als ich schon gewonnen hatte.“ Einmal sagt das „Jack W. aus Boston“, ein anderes Mal „Martin P. aus Mannheim“ (manchmal auch aus Innsbruck), dann wieder „Dietmar B. aus Marl“, „Adam W. aus Atlanta“ (ein Bruder von Jack?), „Paul D. aus Caloundra“ oder „Karl A. aus München“...

Jedenfalls hat das Spiel den Vorteil, dass man es relativ leicht vorbereiten kann (ein sehr guter Generator für Karten findet sich unter www.hjsv.com/games/bingo/bingo-d. html) und dass es eine Art intellektuellen Anti-Intellektualismus ausstrahlt, die etwa an die Sokal-Affäre erinnert: 1996, also ungefähr zur ersten Hochblüte von Bullshit-Bingo, hatte der amerikanische Physiker Alan Sokal der angesehenen soziologischen Zeitschrift „Social Text“ einen absichtlich schwachsinnigen Text mit dem Titel „Transgressing the Boundaries: Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity“ zugeschickt, den diese ohne Änderungen übernahm. Ungefähr zu dieser Zeit entstanden auch die ersten elektronischen Bullshit-Generatoren, die aus den hochtrabenden Begriffen Zufallssätze bilden, zum Beispiel – per Tastenklick gerade auf der Seite http://homepageberatung.at/cont/junk/bullshitgenerator/index.php entstanden: „Hätten nicht Systemschwächen verhindert, dass die bilaterale Retention hausintern alles Bisherige in Frage stellt, kann man sagen, dass die evasive Widersprüchlichkeit legistisch chromolithografisch die Experten überrascht, obzwar die operative Handelsspanne, perfekt terminiert, einer Überprüfung nicht standhält.“ Und so weiter.

Natürlich kann man dieses Bingo auch weniger (pseudo-)intellektuell spielen. Etwa als Platitüden-Bingo bei Fußballübertragungen, mit „da fehlte nicht viel“ bis „an den Außenpfosten!“. Oder als Streber-Bingo: Auf der Karte stehen die Namen aller Streber in der Vorlesung. Jedesmal, wenn einer wieder versucht hat, dem Professor positiv aufzufallen, wird sein Name durchgestrichen. Harry-Potter-Bingo wurde heuer im Internet gespielt, kurz bevor der letzte Harry-Potter-Band herauskam: Die Karte hatte 16 Themen aufgelistet, die noch bei jeder Potter-Neuerscheinung in den Medien abgearbeitet worden waren: „Der Papst gegen Harry Potter“, „Post macht Überstunden und liefert nachts“ et cetera. Schon eine Woche später hatte eine aufmerksame Zeitungsleserin eine Reihe voll. Also zumindest dieses Bingo wurde auch tatsächlich gespielt. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.12.2007)

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