Morgen, morgen, nur nicht heute

Wer alles auf die lange Bank schiebt, will aber auch alles gleich haben. Das ist nun durch spielende Studenten experimentell bewiesen worden.

Aufschiebeverhalten kann ein ernstes psychisches Problem sein. Aufschiebeverhalten? Sie kennen das – wenn nicht bei sich selbst, dann bei anderen: Aufgaben erledigt man prinzipiell im letzten Moment, „da bin ich erst so richtig kreativ“. Das Zimmer wird ganz sicher morgen – „aber jetzt wirklich“ – aufgeräumt, und das schon seit drei Monaten. Was bei den einen bloß eine kleine Unart ist, kann bei anderen zu schwerer Frus- tration führen, zu ständig erhöhtem Stress und zu einer Reihe psychischer Folgeerscheinungen. Untersuchungen der DePaul-Universität in Chicago sprechen von 20 Prozent Aufschiebesüchtigen in der Bevölkerung, eine andere amerikanische Umfrage aus der Mitte der 90er-Jahre hat gezeigt, dass über die Hälfte der notorischen Aufschieber so sehr unter ihrer Eigenart leiden, dass sie auf der Suche nach Hilfe sind.

Seit etwa 15 Jahren nehmen sich Psychologie und Psychiatrie immer mehr dieses Themas an – eigentlich erstaunlich spät für ein Phänomen, das bereits seit dem 16. Jahrhundert einen Namen hat: Prokrastination. (Vielleicht haben die Wissenschaftler die Befassung damit einfach nur immer wieder aufgeschoben.) Viele Ursachen wurden im Zusammenhang mit Prokrastination ausgeforscht. Sie reichen von Angst über Perfektionismus bis hin zum Unvermögen, sich von fernliegenden Ereignissen motivieren lassen zu können. Auch die Verhaltensökonomik hat sich mittlerweile dieses Themas angenommen. Diese auch noch relativ junge Disziplin der Wirtschaftswissenschaften untersucht, wieso Menschen so entscheiden, wie sie es nun eben tun. Eine wesentliche Methode der Verhaltensökonomen ist das experimentelle Spiel – meist mit Studenten, weil diese in ausreichender Zahl und genügender Homogenität zur Verfügung stehen und gegen kleine Beträge immer für ein Spiel zu haben sind.

Ende der 90er-Jahre haben solche Verhaltensökonomen unter Führung von Ted O'Donoghue von der Cornell-Universität im Staat New York die Behauptung aufgestellt, dass Aufschiebesucht und Ungeduld zwei Erscheinungsbilder von ein und derselben Neigung seien. Ausgedrückt haben sie das, ihrer Profession entsprechend, natürlich sehr ökonomisch: Besonders ungeduldige Menschen seien solche, die unmittelbar bevorstehende Kosten überbewerten und fernliegende Wohltaten unterbewerten. Daher tendieren sie zu einem Verhalten, das sowohl danach trachtet, Kosten aufzuschieben (Kosten heißt hier natürlich auch Mühen, Anstrengungen, Opfer et cetera) und Belohnungen vorzuziehen. Sie wollen daher Belohnungen gleich, und schieben die Arbeit auf – Ungeduld und Prokrastination.

Interessanterweise haben sich erst acht Jahre, nachdem diese Behauptung aufgestellt wurde, andere Verhaltensökonomen gefunden, die dafür einen Beweis suchten. Drei Wissenschaftler aus Chicago, die an dieser Stelle im „Spectrum“ schon einmal erwähnten Ernesto Reuben, Paola Sapienza und Luigi Zingales, haben zu diesem Zweck im Jahr 2007 ein Experiment durchgeführt, natürlich mit Studenten, so wie es sich gehört.

Die Studenten wurden zu mehreren Spielen, Lotterien und einer Versteigerung (von Toblerone-Schokolade) eingeladen und konnten dabei bis zu 300 Dollar gewinnen. Am Ende der Übung wurde jedem Studenten angeboten, seinen Gewinn am Ende des Tages in Empfang zu nehmen oder in zwei Wochen – dann allerdings mit einem Bonus. Ausbezahlt wurde aber nicht in bar, sondern mit einen Scheck, wie das in den USA immer noch weit verbreitet ist. Und dann passten die Professoren auf, wie lange jeder Student sich Zeit lässt, den Scheck einzulösen.

Die Absicht ist klar: Mit der Entscheidung, ob Auszahlung jetzt oder in zwei Wochen, sollte die Neigung jeder Versuchsperson zur Ungeduld festgestellt werden, zur unmittelbaren Befriedigung durch eine – in diesem Fall psychische – Belohnung. Das war sogar abgestuft möglich, weil festgestellt wurde, ab welcher „Verzinsung“ der jeweilige Student bereit war, auf sofortige Lieferung zu verzichten beziehungsweise umgekehrt: auf wie viel Geld der Student zu verzichten bereit war, nur um den Scheck gleich zu bekommen. Und mit der Dauer bis zur Einlösung des Schecks konnte überprüft werden, wie sehr jemand eine doch mühsame Prozedur hinauszuschieben bereit war.

Die einzelnen dabei herausgekommenen Zahlen sind ganz interessant, aber nicht das Ziel des Spiels: So war etwa ein Drittel der Studenten schon bei einprozentiger Verzinsung bereit, zwei Wochen auf den Scheck zu warten. Jeder zehnte Student wollte aber nicht einmal bei zwölfprozentiger Verzinsung warten. Und was die Schecks betrifft: Die durchschnittliche Dauer bis zum Einlösen betrug drei Wochen und fünf Tage, und sieben Prozent der Studenten lösten sie gar nicht ein.

Störgeräusche und Aufschubtäter

Und nun kam der große Augenblick: Sind diejenigen, die ihren Scheck gleich haben wollten, mehr oder weniger identisch mit denen, die dann beim Einlösen gebummelt haben? Oder, wissenschaftlicher ausgedrückt: Gab es wirklich eine positive Korrelation zwischen der gemessenen Ungeduld und der gemessenen Aufschiebehaltung? Die gab es, aber nur so schwach, dass sie statistisch nicht signifikant war, also auch auf Zufall beruhen konnte. Also alles weiter nur unbewiesene Behauptungen?

Doch die Wissenschaftler ließen noch nicht locker. Sie sagten sich nämlich, dass die Zeit bis zum Einlösen eines Schecks von vielen unmessbaren Variablen abhängig sein und verzerrt werden könnte – Statistiker nennen das gerne Störgeräusche –, wie etwa die finanzielle Situation des Studenten, die Nähe seines Wohnortes zur Bank und Ähnliches. Oder jemand hat den Scheck einfach verloren. Und deswegen hatten sie noch eine alternative Messmethode für die Prokrastination eingebaut: Die Studenten bekamen zwei Fragebögen auf. Einen mussten sie ausfüllen, der andere war freiwillig. Für beide gab es eine Deadline.

Als die drei aus Chicago diese Daten (wann hat der Student den Fragebogen abgegeben) mit den Vorlieben, was die Übergabe des Schecks betrifft, verglichen, so zeigte sich auf einmal eine starke Übereinstimmung zwischen den Ungeduldigen und den Aufschiebern. Ungeduld und die Unfähigkeit, Unangenehmes gleich zu erledigen, gehen also Hand in Hand.

Weniger stark ist die Korrelation übrigens bei jenen Aufschiebern, die das an sich nicht wahrhaben wollen, bei den „naiven Aufschiebern“. Denn wer bei einer Befragung zu Beginn verneinte, Dinge gerne aufzuschieben, aber dann doch mit dem Scheck-Einlösen und/oder dem Fragebogen-Beantworten bummelte, war zuvor durchaus einverstanden, den Scheck erst später zu erhalten. Sie ahnten ja nicht, wie lange es brauchen würde, bis sie dann damit zur Bank gehen würden – denn sie hatten sich ja ihre Prokrastination nicht eingestanden. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.05.2008)

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