Ein Spielzeug für das Spielzeug

Sonnenbrille, Strampelanzug, Zahnbürste. Nirgendwo auf der Welt leben Hunde majestätischer als in Japan. Dabei ist oft unklar: Sind die Haustiere pure Belustigung für Herrchen und Frauchen, oder brauchen die tierischen Prinzen und Prinzesschen diese Dinge für ihr Seelenheil?

Alice liegt ruhig da. Sie scheint es gewohnt zu sein, im Mittelpunkt zu stehen. Oder zu liegen. Um sie herum sammeln sich Kinder und junge Erwachsene, alle wollen einmal streicheln. „Sie macht das wirklich gut“, sagt Sory Syota und zieht einen Strich für die Schnauze. Die Porträtzeichnerin ist sich sicher, dass Alice dies nicht zum ersten Mal macht. „Wir kriegen hier jeden Tag sehr unterschiedliche Hunde. Viele sind nervös, manchmal müssen die Besitzer sie festhalten, damit sie nicht weglaufen.“ Nicht so dieser Bernhardiner. „Sie weiß eben, dass sie gut aussieht“, sagt ihr Herrchen Takahashi und lächelt. Die Kinder, die Alice umzingeln, nicken begeistert.

Doch der alleinige Star ist die Hündin nicht. Im Einkaufszentrum Venus Fort im südlichen Tokioter Stadtteil Odaiba ist eine tierische Hölle los. Durch den Haupteingang kommen im Minutentakt Herrchen, meistens aber Frauchen, die ihre Chihuahuas, Yorkshireterrier und Border Collies zum Shopping ausführen. Oft ist das Tier nicht allein, sondern in Begleitung von ein oder mehreren Artgenossen. Einige schlittern im Gleichschritt mit ihren Besitzern über den blankgeputzten Kunststoffboden, andere werden im Buggy geschoben oder auf dem Arm getragen. Wohl nirgendwo auf der Welt werden Hunde so hofiert wie in Japan.

Auch die Konsumangebote sind gewaltig. Im Laden Jewel Cake gibt es Hundebuggys im Sonderangebot, Badeanzüge und Sporttrinkflaschen. Ein kleineres Geschäft in der Mitte des Ganges bietet Futter an: Kekse mit verschiedenen Geschmacksrichtungen und ansprechenden Verpackungen, unterschiedliche Nahrung für morgens, mittags und abends. Ein Stück weiter prangen Rucksäcke, die Firma Wandaway hat sich darauf spezialisiert. Darunter welche, in denen ein kleiner Hund verschwinden kann, vor allem aber solche, die sowohl kleine als auch größere Hunde selbst auf dem Rücken tragen sollen. Nicht weit davon prangt ein Plakat des Brillenhändlers Zoff. Die Entwickler der Werbung haben den Braten gerochen: Die angeblich besonders elegante Brille darauf wird von einem Hund getragen.

Es drängt sich die Frage auf: Ist das wirklich alles für die Hündchen gedacht? Oder sind die Tiere lebendige Spielzeuge für jene, die sie so verhätscheln? Der Hundebesitzer Takahashi, der seine Alice porträtieren lässt, sieht sich als guten Freund seines Vierbeiners. „Alice genießt diese Zeit wirklich. Und wenn ich sehe, dass es ihr gut geht, bin ich zufrieden.“ Hier in der Mall will Takahashi auch noch nach ein paar nützlichen Dingen für Alice suchen. „Ich wollte nachsehen, ob ich ein paar Hygieneartikel für sie finde. Sie braucht zum Beispiel eine neue Zahnbürste.“ Und was ist an einer Zahnbürste für einen Hund nicht nützlich?

Knapp 100 Meter von der Porträtzeichnerin liegt der größte Laden in der Mall: Pet Paradise. Neben Wattestäbchen und Zahnbürsten warten Nagellack, Sonnenbrillen, Gürtel und Jacken. Auch für den Fall, dass sich der lebendige Hund einmal einsam fühlt, ist gesorgt: So einen wie ihn gibt es hier als Kuscheltier. Die Wände und die Regale sind weiß und rosa, im Stil eines Mädchenkinderzimmers. Und schenkt man den Verkäuferinnen Glauben, richtet sich das alles nach dem Geschmack der tierischen Kunden, die hier ein- und ausgehen. „Die Hunde freuen sich immer über unsere Produkte, sie sind richtig verspielt“, sagt die Angestellte Saki Obana. „Einige brauchen diese Sachen sogar, um zufrieden zu sein. Viele sind es gar nicht anders gewohnt.“

Das Lächeln, das Obana begleitet, als sie diese Sätze ausspricht, scheint echt, voll glücklicher Überzeugung. Wie viele Japaner ist sie sich sicher, dass einem Haustier Gutes getan wird, wenn man es behandelt wie ein Prinzesschen. Ein Prinzip, das in Fernost gut funktioniert. Die Branche, in der Obana arbeitet, setzt in Japan jedes Jahr eine Billion Yen um (sieben Milliarden Euro), pro Kopf ist das wohl mehr als überall sonst auf der Welt. Neben Accessoires gibt es Thermalbäder, Kuren, Hotels, Schwimmkurse und Bestattungsinstitute. Denn japanische Tierhalter schätzen Tiere nicht bloß als Tiere. Man sucht einen Freund, ein Kind, vielleicht sogar einen Partner. Und immer wieder ein Anziehpüppchen, das sich nicht wehrt. Die Zahl der Haustiere wächst seit Jahren. Offizielle Schätzungen gehen derzeit von 22 Millionen Haustieren aus, deutlich mehr als die 16,6 Millionen Kinder unter 15 Jahren.

Die meisten Kunden von Pet Paradise sind weiblich, zwischen 20 und 50 Jahre alt, „im gebärfähigen Alter“, wie Saki Obana klarstellt. Kinder hätten die meisten Besucher allerdings keine. Obana weiß das, weil ihr Laden vor allem Wiederholungstäter anzieht. Nach ein paar Einkäufen kenne man sich. „Viele kommen einmal pro Woche, manche auch häufiger.“

Einen Toypudel für die Wohnung

Pro Besuch werden allein für Kleidung im Schnitt 5000 bis 6000 Yen hingeblättert, zwischen 35 und 45 Euro. „Manche geben aber viel mehr aus.“ Mit 30 Stück pro Woche verkauft sich das gestreifte Kostümchen mit kurzer Rüschenhose, das es im Matrosen- oder Skaterlook gibt, am besten.

Obana zählt sich selbst zur Zielgruppe, und weil sie im Pet Paradise Prozente erhält, schlägt sie auch regelmäßig zu. Täglich nach der Arbeit erwartet sie daheim ihr weiblicher Border Collie Selene, und Selene freue sich immer über Mitbringsel. Vor einigen Tagen habe sie ihr ein rosa Kleid gekauft, schon das dritte in diesem Monat. „Rosa passt zu ihr, weil Selene immer froh ist. Und sie sieht so süß aus, wenn ich es ihr anziehe“, sagt Obana und hält sich die Hand vor das Gesicht, um ihre Freude zu verbergen. Einen Freund habe sie nicht, wie die meisten Kundinnen hier. Aber ihre Selene, die ist so etwas wie eine gute Freundin. Das Wort „Spielzeug“ vermeidet sie.

Im Venus Fort gibt es auch einen Laden, der Welpen verkauft. Drinnen hüpfen Kinder um die Glaskästen, in denen die kleinen Tiere hocken, und stecken ihre Finger hinein. Aus der Eingangstür spaziert ein junges Ehepaar. „Wir wollen schon lange einen Hund“, sagt Tsuchiya Mari und schaut mit großen Augen zu ihrem Freund. „In unserer Wohnung haben wir nicht viel Platz, deswegen muss er klein sein.“ Einen Toypudel wünschen sie sich. Vielleicht bekomme er auch sein eigenes, kleines Zimmer, denn Kinder plant das Pärchen nicht. Mari wolle ihrem Hund zwar nicht so viele Klamotten und Accessoires kaufen, sagt sie. „Aber so ein Hundeporträt hätte ich schon gern.“ Man wolle ja auch selbst etwas Spaß daran haben. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.10.2014)

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