Treffer: Nicht nur auf die Schulter

Nach Tisch – es gab gutes, kräftiges Fleisch, Oliven, dazu Landwein –, nach Tisch also geht der Meister mit seinem jungen Besucher – kaum 23 Jahre misst der Bursche, und er kommt aus Wien – hinüber ins Atelier. Dies ist ein mächtiger Saal, der die wesentlichen Werke des Mittsechzigers in Repliken vereinigt, dazwischen aber stehen oder liegen zu Hunderten kleine Einzelstudien: da eine Hand, ein Arm, dort eine Pferdemähne, ein Frauenohr. Endlich führt der Gastgeber den Wiener zu einem Sockel, auf dem hinter feuchten Tüchern sein jüngstes Werk, ein Frauenporträt, verborgen ist.

Er löst die Tücher ab und tritt zurück. „Admirable!“, stößt der Besucher unwillkürlich aus gepresster Brust – und schämt sich gleich dieser Banalität. Der Alte, sein eigenes Werk betrachtend, murmelt nur zustimmend in seinen mächtigen Bart:„N'est-ce pas?“ Dann zögert er: „Nur da, bei der Schulter – einen Augenblick!“ Er wirft die Hausjacke ab, zieht den weißen Kittel an, nimmt eine Spachtel und glättet mit einem Strich an der Schulter die weiche, wie lebend atmende Frauenhaut. „Und dann hier . . .“ Er tritt vor und zurück, vor und zurück, gibt unverständliche Laute von sich, ändert, korrigiert. Er arbeitet, arbeitet, arbeitet mit der ganzen Leidenschaft und Kraft seines schweren Körpers; den jungen Mann aus Wien, der lautlos hinter ihm steht – hat er ihn ganz vergessen?

Das geht eine Viertelstunde, eine halbe Stunde. „Große Augenblicke sind immer jenseits der Zeit“, so der Wiener dazu in seinen Erinnerungen. Der Bärtige ist dermaßen versunken in seine Arbeit, dass kein Donner ihn wecken könnte. Immer härter kommen seine Bewegungen, zorniger. Dann werden die Hände zögernder. Sie scheinen erkannt zu haben: Es gibt für sie nichts mehr zu tun. Zweimal, dreimal tritt er zurück, dann legt er zärtlich die Tücher um die Figur.

Er zieht den Kittel aus und geht, vorbei an den Repliken des „Denkers“, des „Kusses“, zur Tür. Als er sie abschließen will, entdeckt er den jungen Wiener – den er doch selbst ins Atelier geführt hat, um ihm seine Werkstatt hier in Meudon zu zeigen – und starrt ihn überrascht an. Nun erst erinnert er sich. „Pardon, Monsieur“, beginnt er . . . In seiner „Welt von gestern“wird der Wiener die Begegnung Jahrzehnte später schildern. ■


Wer traf wen? Einige weitere Werke des Bärtigen sowie des Wieners?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.12.2015)

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