Von Herkunft und Zukunft

(c) Www.BilderBox.com (Www.BilderBox.com)
  • Drucken

Diversität ist in Europa heute der Normalfall,die Einteilung in Einheimische und Einwanderer ein Stück Vergangenheit. Doch das Thema Migration spaltet nach wie vor die Gesellschaft. Über die Kluft zwischen Sesshaften und Mobilen – und eine Politik, die diese Kluft vertieft, statt sie zu überbrücken.

Diversität ist in europäischen Einwanderungsgesellschaften zur Normalität geworden. Der Begriff beschreibt Gesellschaften, die sich nicht mehr in Mehrheiten und Minderheiten, in Einheimische und Einwanderer unterteilen lassen. Es gibt natürlich religiöse, sprachliche und ethnische Minderheiten, deren Situation kaum mit einem anderen Begriff beschrieben werden kann, weil die öffentliche Kultur nationalstaatlich verfasster Gesellschaften nach wie vor von dominanten Sprachen, religiösen Traditionen und nationalen Geschichtsmythen geprägt ist. Aber die frühere Identifizierung von Migration und Minderheit hat sich zunehmend aufgelöst. Zu vielfältig sind die Herkünfte und Zukünfte der Migranten.

Was hat die japanische Musikstudentin in Wien gemeinsam mit der türkischstämmigen Hausfrau, was der deutsche Konzernmanager mit dem Flüchtling aus Somalia? Sie unterscheiden sich nicht nur darin, dass sie in sehr unterschiedlichen geografischen, sozialen und kulturellen Milieus aufgewachsen sind, sondern auch in den Erwartungen, die sie an die Einwanderungsgesellschaft stellen, ebenso wie jenen, die an sie gestellt werden. Manche sind gekommen, um zu bleiben, andere sind hier nur auf Abruf. Einige sind von Anfang an den einheimischen Staatsbürgern in fast jeder Hinsicht gleichgestellt, andere müssen ihre Berechtigung zum Aufenthalt in Asylverfahren und Integrationstests nachweisen.

Wer jedoch glaubt, dass mit der Anerkennung von Diversität als neuem Leitbegriff der Übergang von Auswanderungs- zu Einwanderungsstaaten in Europa endgültig abgeschlossen, weil endlich akzeptiert sei, irrt gewaltig. Mehr als je zuvor ist Migration ein Phänomen und Thema, welches Gesellschaften spaltet. Meine These ist, dass in Europa sich eine zunehmende Kluft zwischen den Sesshaften und den Mobilen auftut und dass die politischen und rechtlichen Steuerungsmechanismen diese Kluft vertiefen, statt sie zu überbrücken. – In Europa gibt es zwei politische Antworten auf Migration. Einerseits die offenen Binnengrenzen der Schengenländer und die europäische Unionsbürgerschaft, deren Kern das Recht auf Freizügigkeit und Nichtdiskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit ist. Andererseits Einwanderungskontrolle und soziale Eingliederungsmaßnahmen für Drittstaatsangehörige.

Beide Antworten haben mit Integration zu tun, aber sie replizieren auf unterschiedliche Fragen. Der europäische Raum der Bewegungsfreiheit ist als Antwort auf die Frage entstanden, wie denn die europäische Staatengemeinschaft zu einer Union europäischer Bürger werden könnte. Die Antwort darauf lautete: Europa integriert sich, indem es seine Bürger mobil macht. Sie baut auf der Diagnose auf, dass Globalisierung die europäischen Staaten als Räume für Lebenschancen geschrumpft hat. Wenn die Bürger begreifen, dass sie ihre Ausbildung, Arbeitsplätze und Lebenspartnerschaften jenseits der nationalen Grenzen suchen können, ohne dabei rechtliche Diskriminierung und sozialen Abstieg befürchten zu müssen, dann werden sie sich auch mit Europa identifizieren.

Zyniker könnten unterstellen, dass damit lediglich an den Eigennutz appelliert wird, nach dem alten lateinischen Motto: „Ubi bene, ibi patria“ – wo es mir gut geht, dort ist mein Vaterland. Doch das Problem liegt gar nicht so sehr im schwachen Gefühlsrückhalt einer solchen europäischen Identität. Viel gravierender ist, dass erhöhte Mobilität keineswegs für alle attraktiv ist. Jenen, die Mobilität als Chance begreifen, stehen andere gegenüber, für die sie ökonomischen Zwang bedeutet. Am bedrohlichsten ist steigende geografische Mobilität jedoch immer für eine dritte Gruppe, die nicht an ihr teilhat: für die Sesshaften, die ihre Lebensweise, ihre sozialen Vorrechte und letztlich ihr Territorium durch die Mobilen bedroht sehen. Der Europäische Gerichtshof und die Kommission haben in den vergangenen Jahrzehnten die aus der Freizügigkeit abgeleiteten Rechte der mobilen Unionsbürger stark ausgeweitet. Gleichzeitig ist seit der Osterweiterung von 2004 auch die Binnenmigration in Europa dramatisch gestiegen. Im Jahr 2008 kamen von den 3,8 Millionen Zuwanderern in den EU-Staaten bereits mehr aus dem EU-Binnenraum (zwei Millionen) als aus den Nicht-EU-Staaten (1,8 Millionen).

Aus der Perspektive der Zuwanderungsländer unterscheiden sich diese neuen EU- Migranten kaum von jenen aus Drittstaaten. Und die nationale Politik reagiert darauf – unter dem Druck der öffentlichen Meinung und ihrer Massenmedien – mit dem Ruf nach Beschränkungen der europäischen Freizügigkeit. Österreich tat dies, als es zusammen mit Deutschland die Übergangsfristen für die Öffnung des Arbeitsmarktes für die Bürger der neuen Mitgliedstaaten bis zum letzten erlaubten Zeitpunkt, dem 1.Mai 2011, ausschöpfte. Italiens Berlusconi tat dies, als er im Jahr 2008 Roma per Fingerabdruck registrieren wollte. Frankreichs Sarkozy tat dies, als seine Regierung im Jahr 2011 Roma-Siedlungen auflöste und eine Zielquote für Deportationen vorgab. Großbritanniens Cameron tat dies, als er vor zwei Wochen ankündigte, griechischen Staatsbürgern die visafreie Einreise zu verwehren, wenn Griechenland die Eurozone verlässt.

Die heutige Wirtschafts- und Fiskalkrise der Union überschattet die Frage, ob durch Freizügigkeitsrechte die politische Legitimität der Union gestärkt werden kann. Aber die Krise wird gleichzeitig diese Frage akuter machen, indem sie die Mobilitätskluft in Europa verstärkt. Mehr Menschen werden durch Arbeitslosigkeit und Austeritätspolitik zur Auswanderung gezwungen werden, und dies wird wiederum die Ressentiments der Sesshaften in den wohlhabenderen Staaten verstärken. Das Dilemma, in dem die Idee der europäischen Integration durch Mobilität heute steckt, ist strukturell jenem der Euro-Krise durchaus ähnlich. So wie es auf Dauer keine Schuldenhaftungsgemeinschaft ohne Fiskalunion geben kann, so kann es auf Dauer keine Mobilitätsgemeinschaft ohne Demokratieunion geben. Damit meine ich, dass Integration durch geografische Mobilität durch die demokratische Mobilisierung der Sesshaften ergänzt und ausgeglichen werden muss. Noch nie seit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft haben die Bürger der europäischen Staaten so hautnah erlebt, dass sie im selben Boot sitzen. Aber diese Einsicht verstärkt nur den berechtigten Eindruck, dass sie auf den Kurs dieses Boots keinerlei Einfluss haben. Die technokratische Regierung der Union wird ergänzt durch technokratische Regierungen in den Krisenstaaten; beide reagieren auf den politischen Druck der mächtigsten Mitgliedstaaten und das Diktat der globalen Finanzmärkte. Demokratische Legitimität für europäische Koordination ist in dieser Krise nicht mehr der Zuckerguss für die bittere Pille, sondern Voraussetzung ihrer Bewältigung. Genau diese Legitimität fehlt aber den europäischen Institutionen, deren Initiativ- und Koordinationskompetenz von den nationalen Regierungen systematisch beschnitten wurde.

Gäbe es etwa einen durch allgemeine europäische Wahlen gekürten Kommissionspräsidenten, so würde der Wahlkampf um diese Position eine viel stärker europäisierte Öffentlichkeit schaffen als die Wahl nationaler Abgeordneter ins Europaparlament und zugleich dem Amt wesentlich mehr politischen Gewicht verleihen, als Manuel Barroso es hat. Eine solche Stärkung der demokratischen Macht auch der sesshaften Bürger auf europäischer Ebene könnte wesentlich dazu beitragen, dass europäische Integration nicht mehr ausschließlich als Veranstaltung im Interesse des mobilen Kapitals und der mobilen Bürger wahrgenommen wird.

Die eine Antwort Europas auf Migration heißt also Abbau von Mobilitätshürden zur Förderung der europäischen Integration. Die Integration der mobilen Europäer in die Aufnahmegesellschaften soll dabei über Markt und Zivilgesellschaft erreicht und staatlich weder behindert noch gefördert werden. Die andere Antwort lautet nicht nur Einwanderungskontrolle für Drittstaatsangehörige, sondern auch staatlich verordnete Integrationsnachweise, die jene neuerdings sogar schon vor der Zulassung zum Familiennachzug erbringen müssen.

Die Effizienz dieser Sprach- und Integrationstests wird nur selten diskutiert oder gar sozialwissenschaftlich untersucht. Sie hängt ja auch davon ab, was als politische Absicht angenommen wird. Geht es darum, durch den Anreiz einer verbesserten Rechtsstellung das Erlernen der Sprache des Aufenthaltslandes zu fördern? Oder darum, einkommens- und bildungsschwache Migranten durch Verweigerung von Familienzusammenführung, Daueraufenthalt und Einbürgerung zur Rückkehr zu motivieren? Beides ist nicht recht einleuchtend, wenn man einerseits den Strafcharakter der Maßregeln bedenkt und andererseits die rechtlichen Hürden für Rückführungen niedergelassener Einwanderer. Plausibler ist wohl, dass solche Instrumente weniger dazu dienen, die Integration von Einwanderern zu fördern, als die Abwanderung von Stimmen ins rechtspopulistische Lager zu verhindern. Sicher scheint lediglich, dass diese Integrationspolitik zum neuen Leitbegriff der Diversität passt wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge.

Der Kontrast zwischen den beiden Antworten Europas auf Migration könnte also größer nicht sein: einerseits Integration durch staatlichen Steuerungsverzicht, andererseits Integration als staatlich verordnete Pflicht. Die Politik gestaltet kaum noch die soziale Realität der europäischen Einwanderungsgesellschaften, sondern zieht sich in rechtliche Fiktionen zurück, bedient aber damit gleichzeitig in handfester Weise den populistischen Glauben an das Volk der Einheimischen. Vielleicht sollte diese Politik – verzeihen Sie das Wortungetüm – einem Diversitätstauglichkeitstest unterzogen werden. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.07.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.