Eine Farbe? „Rot.“

Generalsekretär der spanischen KP, Eurokommunist, mitverantwortlich für den friedlichen Übergang von der Francodiktatur zur Demokratie. Und vermutlich der letzte europäische Politiker, der von klein auf vom Kampf gegen Armut und Ausbeutung durchdrungen war. Zum Tod von Santiago Carrillo.

Als listigen kleinen Teufel, der qualmend aus dem klandestinen Höllenloch schaut, so hat ihn der Karikaturist Peridis über Jahre gezeichnet: den spanischen Kommunisten und Kettenraucher Santiago Carrillo, der vergangene Woche im Alter von 97 Jahren in Madrid gestorben ist.

Ein Satan in schmächtiger Menschengestalt war er nicht nur den aussterbenden Falangisten, sondern auch jenem erschreckend stabilen Segment des spanischen Bürgertums, das seine Dünkel und Vorurteile aus der Francozeit bis in die Gegenwart gerettet hat und sie sich gern von publizistischen Wendehälsen wie Federico Jiménez Losantos und Gabriel Albiac bestätigen lässt. Diese hatten Carrillo in einer Radiosendung anlässlich seines Todes als Reptil, als „Paradigma dieser Generation von Monstern, die das Europa der Zwischenkriegszeit hervorgebracht hat“, und als Aasgeier, „der alle liquidiert und alle überlebt“, bezeichnet.

Überraschend, dieser über Jahrzehnte gespeicherte Hass auf den ehemaligen Generalsekretär der Kommunistischen Partei. Immerhin war er in den Jahren 1977 bis 1979 neben dem damaligen Premier Adolfo Suárez hauptverantwortlich für den friedlichen Übergang von der Diktatur zur parlamentarischen Demokratie und hatte schon lange davor eine Politik der nationalen Versöhnung verfolgt.

Santiago Carrillo war vermutlich der letzte europäische Politiker, der von klein auf vom Kampf gegen Armut und Ausbeutung durchdrungen gewesen ist. Seine früheste Erinnerung ist die an den Vater Wenceslao, einen Genossen des Linkssozialisten Largo Caballero, wie er ihn mit der Mutter im Gefängnis besucht. Als Santiago neun ist, übersiedelt die Familie von der asturischen Hafenstadt Gijón in die spanische Hauptstadt. Dort beginnt er mit 14 Jahren zu arbeiten, in der Redaktion der Parteizeitung „El Socialista“, wird fünf Jahre später Obmann der Sozialistischen Jugend und nach der blutig niedergeschlagenen Revolution in Asturien, 1934, verhaftet und eingesperrt. Auf seine Initiative kommt es zur Vereinigung der Sozialistischen Jugend mit dem bis dahin bedeutungslosen Kommunistischen Jugendverband. Das neue Bündnis wird während des Bürgerkriegs und unter seiner Führung zur mitgliederstärksten Organisation der Republik. Im November 1936, im belagerten Madrid, tritt Carrillo der Kommunistischen Partei bei, nicht nur wegen, aber auch in Anerkennung der sowjetischen Hilfe im Kampf gegen die aufständischen Militärs.

Exponent des Eurokommunismus

Nach der Niederlage der Republik, während der 37 Jahre währenden Verbannung, steigt Carrillo im Parteiapparat auf. 1960 tritt er als Generalsekretär die Nachfolge der populären Dolores Ibárruri „La Pasionaria“ an. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings kritisiert er die sowjetische Führung und wird gemeinsam mit Enrico Berlinguer von der PCI zum Exponenten des sogenannten Eurokommunismus, der den Parlamentarismus nicht als Mittel zum Zweck der Machterringung, sondern als erhaltungswürdiges Ziel ansieht, die Diktatur des Proletariats als notwendige Etappe auf dem Weg zur sozialistischen Demokratie verwirft und den „Kräften der Arbeit“ diejenige „der Kultur“ als Subjekte gesellschaftlicher Veränderungen zur Seite stellt.

So unausgegoren und pragmatisch das Konzept dieses „Sozialismus in Freiheit“ auch war, es stellte den letzten ernst zu nehmenden Versuch dar, die kommunistische Weltbewegung zu reformieren und den Sozialismus nicht nur als Idee, sondern auch als politische Praxis vor dem Verschwinden zu bewahren. Darin liegt Carrillos großes Verdienst, aber auch seine Schwäche: dass er die Demokratisierung der Partei mit autoritären Maßnahmen durchgesetzt hat, wie üblich und vielleicht auch unerlässlich unter den Bedingungen der Illegalität. Es war eine Zeit, in der Abweichungen von der Parteilinie nicht geduldet und oft auch mit dem Tod bestraft wurden. Ihn ereilte ein gnädigeres Schicksal: Nachdem er den eurokommunistischen Kurs der Partei sowohl gegen seine prosowjetischen Widersacher als auch gegen die sozialdemokratisch inspirierten „Erneuerer“ durchgesetzt hatte, wurde Carrillo nach der schweren Wahlniederlage von1982 zum Rücktritt gezwungen, dann aus der Partei ausgeschlossen. Von da an und bis wenige Wochen vor seinem Tod war er als Journalist und Buchautor tätig. Bar jeder Eitelkeit, frei von Ressentiments, ohne Anflug von Zynismus kommentierte er die politische Aktualität. Es war ein Vergnügen, ihm zuzuhören oder seine Artikel zu lesen. Nicht wegen der Brillanz seiner Formulierungen, sondern weil er immer bei der Sache blieb, Scharfsinn mit Klarsicht paarte und polemische Untertöne für unnötig erachtete. Und weil er einem die Gewissheit gab, dass Spanien und die Welt nicht verloren ist, solange er seine Stimme erhebt.

Die schwarze Legende Spaniens macht ihn für ein Massaker verantwortlich, bei dem im Spätherbst 1936 circa 2400 politische Häftlinge – Faschisten oder der faschistischen Kollaboration Verdächtige – in zwei Vororten Madrids, Paracuellos del Jarama und Torrejón de Ardoz, erschossen wurden. Der damals 21-jährige Carrillo war kurz zuvor vom Madrider Verteidigungsrat zum Bevollmächtigten für öffentliche Ordnung ernannt worden. Der Schutz von Gefangenen fiel demnach in sein Ressort. Er hat stets beteuert, erst nachträglich von der Massenhinrichtung erfahren zu haben. Tatsächlich hat sich bis heute kein Dokument und keine Zeugenaussage gefunden, die seine Mittäter-oder Mitwisserschaft beglaubigen würden. Ohne die außergerichtlichen Exekutionen zu legitimieren, hat er auf die Lage in der Stadt hingewiesen: Die Regierung war gerade erst nach Valencia geflüchtet, während umgekehrt Menschen aus den von Francotruppen eroberten Provinzen in Madrid Zuflucht suchten. Sie berichteten vom Schicksal ihrer Nachbarn und Angehörigen. Dem Massaker in der Stierkampfarena von Badajoz, den Vergewaltigungen, Verstümmelungen... Menschen, die in dieser Atmosphäre – und unter den täglichen Bombenangriffen durch deutsche und italienische Flugzeuge – Francos Fünfter Kolonne zugerechnet wurden, konnten nicht mit Schonung rechnen. Außerdem waren paramilitärische Gruppen aktiv, die Privatverliese unterhielten und die chaotischen Verhältnisse für ihre eigenen dunklen Ziele nutzten.

Als zweiter Beleg für Carrillos schuldhafte Existenz gilt ein Brief, in dem er seinen Vater öffentlich des Verrats bezichtigt und sich für immer von ihm losgesagt hat. Das geschah im März 1939, als die Niederlage der Republik schon besiegelt war. Während der sozialistische Ministerpräsident Juan Negrín gemeinsam mit den Kommunisten daran festhielt, den Kampf gegen Franco bis zum bitteren Ende weiterzuführen – in der verzweifelten Hoffnung, es werde bis dahin der Weltkrieg ausbrechen, der Bürgerkrieg sich also internationalisieren –, kam es in Madrid zu einem Putsch gegen die Regierung. Sein Rädelsführer, Oberst Segismundo Casado, konnte auf die Unterstützung der Anarchisten und eines Flügels der Sozialistischen Partei, darin Wenceslao Carrillo, bauen. Die Aufständischen hofften, mit Franco einen ehrenhaften Separatfrieden aushandeln zu können: eine Illusion, wie sich bald herausstellte. Die Nachricht vom Verrat seines Vaters ereilte Santiago Carrillo in Paris, gleichzeitig mit der vom Tod seiner Mutter. „Es war ein furchtbarer Schlag für mich. Ich muss gestehen, dass das Verhalten meines Vaters mir mehr wehtat als der Tod meiner Mutter. Es war der größte Schmerz in meinem Leben.“

Viele Jahre später, als er die Partei dazu brachte, die Perspektive eines Generalstreikszur Beendigung der Francodiktatur zugunsten eines demokratischen Pakts mit den reformwilligen Siegern aufzugeben, meinte Dolores Ibárurri, dass er sich erst einmal mit dem eigenen Vater aussöhnen sollte. Er nahmsich den Rat zu Herzen und suchte seinen im belgischen Exil lebenden Vater auf. „Überdie Affäre Casado haben wir allerdings nicht gesprochen. Das hätte nur wieder böses Blut ergeben.“

Die Monarchie akzeptiert

Der dritte und wirklich ernst zu nehmende Vorwurf betrifft Carrillos Rolle im demokratischen Übergang: als er die von Franco installierte Monarchie als Staatsform akzeptierte, auf die Bedingung einging, die Repressoren des Regimes straffrei zu stellen, und den arbeiterfeindlichen „Pakt von Moncloa“ unterzeichnete. Immerhin war die Kommunistische Partei die stärkste Oppositionskraft,verfügte über selbstlose und loyale Mitglieder und mit den Arbeiterkommissionen über eine kampferprobte Gewerkschaft. Aber die Kritik, derzufolge er die Chancen der Partei verspielt habe, ist Carrillo zufolge eine Rückprojektion: „Wir waren zweifellos die hegemoniale Kraft der Opposition. Aber einer minoritären Opposition, die nie stark genug war, mit dem Frankismus fertigzuwerden. Und nicht deshalb, weil die Spanier mehrheitlich Frankisten gewesen wären, sondern weil der Widerstand ein Risiko bedeutete, das nur eine Minderheit einging.“

Der Sieg hat viele Väter, die Niederlage ist ein Waisenkind. Carrillo war beides zugleich,Vater und Waise: Vater der gewaltarmen Demokratisierung des Landes; Waise, weil sein Kalkül nicht aufging, die Kommunistische Partei als stärkste Kraft der Linken zu etablieren. Eine der größten Ungerechtigkeiten der Geschichte besteht darin, dass Wähler nicht denen ihre Stimme geben, die das meiste dafür getan haben, dass sie überhaupt wählen dürfen. Bei den ersten Wahlen, 1977, erhielt die KP Spaniens kaum zehn Prozent der Stimmen. Die sozialistische PSOE, die in Spanien bis dahin praktisch nicht präsent gewesen war, wurde mit dem voto útil, der nützlichen Stimme, belohnt. Ihre Führer hatten das getan, was Sozialdemokraten meistens tun: „Zuwarten, dass sich die Verhältnisse durch den Kampf anderer ändern.“

Verbittert war Santiago Carrillo deshalb nicht. Er glaubte nicht an das Ende der Geschichte. Vor fünf Jahren drehte der Regisseur Manuel Martín Cuenca den Dokumentarfilm „Carrillo, comunista“. Auf die letzte Frage durfte sein Protagonist nur mit einem Wort antworten. Carrillo war skeptisch: „Es gibt kaum Fragen, die sich mit einem einzigen Wort beantworten lassen.“ Aber dann tat er es doch. Die Frage lautete: „Eine Farbe.“ Und die Antwort war: „Rot.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.09.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.