Wie wir wurden. Was wir sind.

Wie wurden wir Österreicher, welche Ereignisse haben uns geprägt? Was formt die kollektive Erinnerung, was gehört zu unserem gemeinsamen Erfahrungsschatz? Eine Nachschau in fünf Stationen.

Oesterreich ist nach 1945 das geworden, was es heute ist:selbstverständlich. Für die achteinhalb Millionen (vielleicht einpaar wenige ausgenommen), die heute in den Grenzen des Staatsvertrags von St. Germain leben, ist die Frage nach der „österreichischen Identität“ beantwortet. Die Suche nach einer Antwort auf diese Frage hat das halbe 20. Jahrhundert beschäftigt und die Menschen in diesem Land in die Katastrophe ideologischer Irrwege geführt. Die Österreicher fühlen sich im dritten Jahrtausend als eigenständige Nation, oder sie wissen gar nicht mehr, was eine Nation ist. Wir haben heute andere Probleme, andere Sorgen. Fast ein Viertel der Bevölkerung ist erst in den vergangenen Jahrzehnten zugewandert. Sie sind die neuen Österreicher, sie stellen neue Fragen, sie stellen die Gesellschaft vor neue Probleme, aber bieten auch neue Chancen.

Wie wurden wir Österreicher, welche Ereignisse haben uns geprägt, welche Meilensteine haben wir hinter uns gelassen? Was formt die kollektive Erinnerung, was gehört zum gemeinsamen Erfahrungsschatz der „Generation Österreich“? Es sind die „prägenden Momente“: Siege und Niederlagen, Freudentage und Katastrophen, Euphorie und Trauer, Zorn und Jubel, Stolz und Scham. Es sind kollektive Gefühle, die eine gemeinsame Identität schaffen.

Welche Ereignisse haben sich tief ins Gedächtnis der Österreicherinnen und Österreicher eingegraben? Was wird als prägend erlebt? Das Meinungsforschungsinstitut OGM fragte nach und lieferte einen überraschenden Befund: Bei drei Viertel aller Befragten, die jünger als 30 Jahre sind, ist der Unfalltod von Jörg Haider im Oktober 2008 das Ereignis mit dem stärksten Erinnerungswert. Danach folgen die Katastrophen von Galtür und Kaprun, der „Fall Fritzl“ und, als einziges politisches Thema, der EU-Beitritt. Bei der Generation 50+ gilt der Einsturz der Reichsbrücke ex aequo mit Haiders Tod als stärkste Erinnerung. Der Feuerunfall von Niki Lauda, die Volksabstimmung um Zwentendorf und die Besetzung der Hainburger Au folgen knapp danach. Kreiskys Wahlsieg 1970 hinterließ weniger Erinnerungsspuren als der Fußballsieg in Córdoba oder die Disqualifikation von Karl Schranz.

Jüngere Ereignisse rücken prägende Momente der Geschichte in den Hintergrund. Mit den Jahrzehnten verblasst Bedeutendes. Stellvertretend sollen hier fünf Geschichten, die Geschichte schrieben, herausgegriffen werden.


Franz Matscher diktierte als junger Außenamtsbeamter in der Nacht auf den 15. Mai 1955 den Staatsvertrag. Er erinnert sich an den letzten Verhandlungstag: „Es war bereits in allen Fragen Übereinstimmung erzielt worden, als sich Leopold Figl zu Wort meldete. Der österreichische Außenminister verlangte von den Siegermächten nicht weniger als die Streichung der sogenannten Mitschuldklausel aus der Präambel des Vertrages. Als Figl geendet hatte, herrschte betretene Stille. Die Österreicher warfen sich nervöse Blicke zu. Hat der ehemalige Bundeskanzler zu hoch gepokert? Hat er mit seiner Äußerung den sicher scheinenden Abschluss des Staatsvertrages in Gefahr gebracht? Die Spannung im Saal war mit Händen zu greifen. Doch der sowjetische Außenminister Molotow stimmte zu, und die westlichen Außenminister folgten seinem Beispiel.“

Der Jurist schildert jene Minuten, in denen nach sieben Jahren Naziherrschaft und zehn Jahren Besatzung der Grundstein für die Freiheit Österreichs gelegt wurde:„Man sah Figl an, was ihm dieser Moment bedeutete. Bedächtig nahm er die goldene Füllfeder zur Hand und ließ seinen Blick über die Unterschriften der Alliierten gleiten. Jede Sekunde kostete er aus, ehe er schließlich seinen Namen unter jenen Vertrag setzte, für den er zehn Jahre lang gekämpft hatte. Jetzt konnte Leopold Figl endlich seine Gefühle in Worte fassen. Er sprach über den ,dornenvollen Weg der Unfreiheit‘ und ,eine neue und glückliche Epoche der österreichischen Geschichte‘ in der Zukunft. In diesem Moment sprach ein Mensch, der nach langen Mühen sein Lebenswerk vollenden konnte. Er sagte: ,Mit dem Dank an den Allmächtigen rufen wir aus: Österreichs Volk jubelt, alle Glocken läuten es Österreich ist frei!‘“


Thaddäus Podgorski
, enger Freund von Helmut Qualtinger, später Journalist, ORF-Generaldirektor und Schauspieler, erzählt über den Abend des 15. November 1961, an dem im Fernsehen „Der Herr Karl“ ausgestrahlt wurde:„,Mir brauchen Se gar nix d'erzählen, weil i kenn das‘, sagte der fette Magazineur im Arbeitsmantel. Er trug einen verbeulten Hut über Hitlerbärtchen und Doppelkinn. Obwohl der Mann abstoßend wirkte, hörte ich ihm aufmerksam zu. ,Bei mir war immer das Herz dabei. Immer a bisserl das Herz dabei‘, sagte der ,Herr Karl‘ und meinte damit seine Frauengeschichten. Er hätte treuherzig gewirkt, wäre da nicht eine gewisse Verschlagenheit in seinem Blick gewesen. Qualtinger spielte großartig. Die Gemeinheit liegt ja in der Freundlichkeit, und das spielte Qualtinger sehr gut, das ist das Österreichische, das Wienerische. Auf jeden Fall wurde den Österreichern plötzlich ein Spiegel vorgehalten, und es war erschreckend, was sie da sahen.“

Der prominente Fernsehmacher ist heute noch darüber verwundert, dass der „Herr Karl“ 1961 im österreichischen Fernsehen gesendet werden konnte: „Fernsehdirektor Gerhard Freund hat Mut bewiesen. ,Der Herr Karl‘ war ein Meilenstein. 16 Jahre nach dem Ende des Krieges döste die Republik vor sich hin, durch den Proporz zwischen Rot und Schwarz in einen künstlichen Tiefschlaf versetzt. Das Schlimmste war in dieser Zeit aber der verlogene Umgang mit der Nazivergangenheit. Jeder wusste, dass in dieser Republik auch ehemalige Parteigenossen hohe Ämter bekleideten. Aber niemand sprach darüber. Nach der Ausstrahlung des ,Herrn Karl‘ wurde darüber gesprochen. Mein Freund ,Quasi‘ wurde über Nacht zur Unperson. Er war stolz darauf. Er war einer, der es sich nicht gerichtet hat.“


Karl Schranz über die Heimkehr nach seiner Disqualifikation bei den Olympischen Spielen 1972: „Am Flughafen jubelte mir eine riesige Menschenmenge zu. Auf der Fahrt nach Wien waren die Straßen links und rechts von Menschen gesäumt. ,Karli, Karli‘, schrien die Schaulustigen. Am Ballhausplatz warteten Tausende begeisterte Menschen. Bundeskanzler Kreisky empfing uns: ,Ich bin sehr betroffen über die Ungerechtigkeit und Einseitigkeit dieser Entscheidung. Das österreichische Volk bringt Ihnen große Zuneigung entgegen.‘ Ich war überwältigt und gerührt.“

Fast 35 Jahre später spricht Schranz über die Hintergründe seines Ausschlusses: „Wir waren damals alle keine Amateure. Vielleicht hab ich mehr Geld verdient als andere, aber ich war damals auch der Beste. Ich war der Populärste, daher hat es mich erwischt. Avery Brundage, der damalige IOC-Präsident, hat jedes Mal, wenn es um die Olympischen Winterspiele ging, eine Liste aufgestellt, wer von den alpinen Läufern gefährdet ist, disqualifiziert zu werden. Brundage hat uns praktisch zum Abschuss freigegeben. Ich habe aber auch Feinde im eigenen Lager gehabt. Es war ein Funktionär aus dem ÖOC, der mich ans Messer geliefert hat. Das einzig Gute an meinem Ausschluss war, dass ich den Amateurstatus gekillt habe. Wenn ich heute die Spitzenathleten sehe, die Millionen verdienen und die gebeten werden, bei den Olympischen Spielen mitzumachen, muss ich lachen.“

Erik Nauta, der Untersuchungsrichter im Briefbombenfall, beschreibt den Moment, in dem der Attentäter und vierfache Mörder Franz Fuchs bei den Vernehmungen zusammenbrach: „Die Bilder der Toten von Oberwart waren schockierend. Ich durfte den mutmaßlichen Täter meine Verachtung aber nicht spüren lassen, wenn ich ein Geständnis bekommen wollte. Ohne lange Einleitung konfrontierte ich Franz Fuchs mit den Tatortfotos von Oberwart. Er schloss die Augen und hielt den Armstumpf schützend vor sein Gesicht. Es war unmöglich, ihn dazu zu bewegen, die Fotos anzusehen. Erst als ich die Fotos entfernte, bemerkte ich, dass Tränen über seine Wangen liefen.“

Fuchs hat von der Notwendigkeit dieses Anschlags im Interesse der Befreiung des bajuwarischen Lebensraumes von Zuwanderern aus Indien gesprochen, erläutert Erik Nauta 15 Jahre nach der Vernehmung: „Er hat mir genau erläutert, wie er die Bombe von Oberwart konstruiert hat. Ich erinnere mich noch deutlich. Er hatte damals so ein blaues Joggingjackerl über seinen Armstümpfen, und wir haben ihm dann einen Kugelschreiber in den Bund gesteckt, und er hat uns mit der Begeisterung eines Bastlers das Innenleben der Bombe gezeichnet. Er hat nie ein umfassendes Geständnis abgelegt, aber er hat in vielen Punkten Teilgeständnisse abgegeben. Er hatte eine schwere Persönlichkeitsstörung. Aufgrund dieser geistigen Abnormität war er aber nicht unzurechnungsfähig, er hat sehr genau gewusst, was er tut. Persönlich war er der Meinung, eine Heldentat erbracht zu haben.“


Arne Willrich, ehemaliger „Antenne-Kärnten“-Reporter, über das letzte Interview mit Jörg Haider: „Bei der Präsentation von Egon Rutters Societymagazin ,Blitzlichtrevue‘ in der Nobeldisco ,Le Cabaret‘ in Velden sollte ich eine launige Radioreportage über Kärntens High Society machen. Plötzlich kam der Landeshauptmann bei der Tür herein, obwohl er schon abgesagt hatte. Jörg Haider gab mir ein launiges Interview, dann stürzten sich die Gäste auf ihn.“ Der damalige Radioreporter lässt die Stunden nach der Todesnachricht noch einmal vergehen: „Ich habe Interviews mit Passanten gemacht. Die Leute haben immer wieder gesagt: Er war ja noch so jung. Manche haben seitenweise Gedichte geschrieben. Ich habe ein paar auf Sendung vorlesen lassen. Dieses bitterliche Weinen werde ich nie vergessen.“


Die „Generation Österreich“ entstand nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Erlebnis von Diktatur, Gewalt und Krieg und mit dem festen Vorsatz: „Nie wieder.“ Das Entstehen einer kollektiven Erinnerung formt die „Generation Österreich“, die längst aus mehreren (Alters-)Generationen besteht. Menschen, für die „Österreich“ ein Wert an sich war und ist. Es ist nicht nur die erste „Generation Österreich“, sondern vermutlich auch die letzte. Ihre Kinder würden sich vielleicht eher als „Generation Europa“ definieren, deren Kinder womöglich als „Generation World Wide Web“. Wer weiß. ■

WIR ÜBER UNS: Dokumentation

Am 29. Dezember startet auf ORF III die vierteilige Dokumentationsserie „Wie wir wurden, was wir sind“, die von Birgit Mosser-Schuöcker gemeinsam mit Gerhard Jelinek verantwortet wurde. Weitere Sendetermine: 5., 12. und 19. Jänner, jeweils um 20.15 Uhr.

Das Buch zur Serie ist unter dem Titel „Generation Österreich – Prägende Momente der Zweiten Republik“ in der Edition A, Wien, erschienen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.12.2012)

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