Zu viele Nackte im Harem

Wie sich die kulturelle Textur der Türkei ändert: Nachrichten aus Istanbul. Höchste Zeit für einen Besuch von Istanbul, um die renovierte Hagia Sophia, geräumt von Gerüsten und Schutthaufen, zu bewundern.

Höchste Zeit für einen Besuch von Istanbul, um die renovierte Hagia Sophia, geräumt von Gerüsten und Schutthaufen, zu bewundern. Trotz der schamlosen Plünderungen durch christliche Kreuzfahrer 1204 und trotz der osmanischen Eroberung 1453 strahlt sie – selbst als Museum – kaiserlichen Sakralglanz aus. Das sollte uns nicht hindern, anschließend kopfüber in das lärmende Labyrinth der modernen Stadt einzutauchen, wo Istanbuls lässige Bourgeoisie ausgelassen Feste feiert, im eleganten Design schwelgt und ein starkes Selbstbewusstsein, eher Okzident denn Orient, zur Schau trägt.

Als Reiselektüre hatten wir den Istanbul-Band des Nobelpreisträgers Orhan Pamuk eingesteckt. Zur Verblüffung entdeckten wir darin ein ganz anderes Istanbul, das der Kindheit und Jugend Pamuks, farblos, verkommen, gedemütigt von historischen und kulturellen Niederlagen, was der Autor mit dem Begriff „hüzün“, der Melancholie des Verfalls, auszudrücken sucht. Besonders Atatürks forcierte Türkisierung, meint Pamuk, habe der Metropole ihren kosmopolitischen, polyglotten sowie multireligiösen Charakter ausgetrieben. Einen Tiefpunkt erreichte Istanbul im September 1955 mit den zweitägigen Plünderungen griechischer, armenischer und kurdischer Geschäfte. Übrig blieb ein exaltierter türkischer Nationalismus.

Kein Platz für „hüzün“

Und doch: Istanbul, von einer Million Köpfe auf heute 14 Millionen explodiert, triumphierte dank einer aus eigener Kraft genährten Renaissance, die „hüzün“ keinen Raum lässt. Es begann sichtbar in den 1990ern, als Recep Tayyip Erdoğan, damals als Bürgermeister, Istanbul kulturell zügeln wollte. Nichts griff, wohl aber seine urbanen Kraftakte, Metrobau, Satellitenstädte, Wasserleitungen, Wirtschaftsboom. Erdoğans Werben um Europa lockerte außerdem die strenge Türkisierung, ließ erneut Kosmopolitisches aufleuchten.

Indes, das Fenster nach Brüssel ist heute kaum noch einen Spalt offen. Erdoğan als Ministerpräsident im kalten Ankara schaut stattdessen südwärts und empfiehlt sich der islamisch-arabischen Welt als Schiedsrichter. Noch halten alle auf Drängen Brüssels eingeführten Toleranzen, aber in der Praxis treiben Elemente von Entdemokratisierung und Islamisierung nach oben. Es beklagen dies insbesondere Frauenorganisationen, deren Freiraum selbst in Istanbul schrumpft, seit Erdoğan der Richterschaft empfohlen hat, vor dem Urteilspruch die Meinung von Islamgelehrten einzuholen.

Ein – sympathischer – Beleg für das langsam sich ausschälende Alternativprofil der Türkei ist die Entdeckung der eigenen Vergangenheit im mächtigen, von Atatürk verachteten osmanischen Reich. Im Fernsehen tauchen Seifenopern auf, welche die osmanische Vergangenheit in üppiger Ausstattung neu erzählen. (Nur Ministerpräsident Erdoğan poltert im Hintergrund wegen zu viel Nacktheit bei den Haremsdamen.) Einen Meilenstein setzt der Film „Fetih 1453“ über die Eroberung Konstantinopels durch den 21-jährigen Sultan Mehmed II. (Wir gönnten uns den dreistündigen Historienschinken auf DVD.)

Wie sich die Akzente verlagern: 1953, beim kümmerlichen 500-Jahr-Gedenken der Einnahme der oströmischen Kapitale, galt dies den türkischen Politikern, eben erst in der „westlichen“ Nato angekommen, als Peinlichkeit. Heute kommt die Erinnerung gelegen. Sichtlich verändert sich die kulturelle Textur der Türkei. Selbst in Istanbul tragen die Frauen wieder häufiger das Kopftuch. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.12.2012)

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