Wie überflüssig sind Sie?

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Auf wen können wir verzichten? Geradezu eine unverschämte Frage, ich weiß. Überflüssig sind immer nur die anderen. Über Markt und Müll.

Sind Sie überflüssig? Natürlich nicht. Ihre Kinder? Nein, keineswegs. Ihre Verwandten, Ihre Freunde? Geradezu eine unverschämte Frage, ich weiß. Ehrlich gesagt, empfinde ich mich selbst auch nicht als überflüssig. Wer tut das schon? Und doch gelten viele Menschen auf Erden als überflüssig, aus Sicht der neoliberalen Ökonomen und global agierenden Eliten. Wer nichts produziert und – schlimmer noch – nichts konsumiert, existiert gemäß den volkswirtschaftlichen Bilanzen nicht. Wer kein Eigentum sein Eigen nennt, ist kein vollwertiger Bürger. Der Subsistenzbauer gilt als Anachronismus, als Bremse der entfesselten Entwicklung, weswegen er enteignet und vertrieben wird. Der Langzeitarbeitslose gilt als Belastung der Gesellschaft, weswegen er erniedrigt und schikaniert wird.

Unser Planet ist voll. Das mag stimmen, doch wenn sich zu viele Menschen auf einem Floß oder in einem Raumschiff zusammendrängen, gelten gemeinhin nicht alle als überzählig, sondern nur manche (eingefleischte Misanthropen würden widersprechen, sie begreifen, in den Worten von James Lovelock, die gesamte Menschheit als „Virus, von dem der Planet sich heilenmuss“). Die entscheidende Frage kann in einem solchen Fall nurlauten: Wer ist zu viel an Bord, auf wen können wir verzichten? DieseFrage wird keineswegs objektiv reflektiert, sondern sie wird von derEvidenz der Machtverhältnisse beantwortet:Die Schwächsten gehenüber Bord oder werden aufgefressen. Insofern birgt der oft leichtfertig dahingesagte Satz „Es sind zu viele Menschen“ enormen ethischen Sprengstoff.

Überbevölkerung setzt mit der Moderne ein; das Phänomen war in vormodernen Gesellschaften unbekannt; wenn die Grundlagen ihres Überlebens kollabierten, starben sie aus, aber es existierte keine herrschende Ächtung eines Teils der Bevölkerung und natürlich auch nicht der technische Fortschritt, der bestimmte Tätigkeiten vom Menschen auf die Maschine überträgt. Mit dem Beginn der Industrialisierung wurden Teile der westeuropäischen Bevölkerung überzählig, zuerst in Großbritannien, also bediente man sich der vormodernen Regionen als Auffangbecken für die Überbevölkerung der hochmodernen Gesellschaften; die Vorfahren der meisten Bewohner Nordamerikas, Australiens, Neuseelands, Südafrikas stammen daher aus den damals am höchsten entwickelten Ländern der Welt. Überbevölkerung war somit zunächst ein westeuropäisches Problem, was uns ironisch erscheinen mag, da wir dieser Tage eher mit Hiobsbotschaften von unserem drohenden Aussterben konfrontiert sind.

Als die Industrialisierung sich durchzusetzen begann, trat Robert Malthus, britischer Nationalökonom und Sozialphilosoph,auf die Bühne und entwickelte sein Bevölkerungsgesetz, das in der berühmten Quintessenz kulminierte: „Ein Mensch, der in einer schon okkupierten Welt geboren wird, wenn seine Familie nicht die Mittel hat, ihn zu ernähren, oder wenn die Gesellschaft seine Arbeit nicht nötig hat, dieser Mensch hat nicht das mindeste Recht, irgendeinen Teil von Nahrung zu verlangen, und er ist wirklich zu viel auf der Erde. Bei dem großen Gastmahle der Natur ist durchaus kein Gedeckefür ihn gelegt. Die Natur gebietet ihm abzutreten, und sie säumt nicht,selbst diesen Befehl zur Ausführung zu bringen.“ Heute, da die Globalisierung als Endresultat der Kolonialisierung alle migratorischen Überlaufbecken aufgefüllt hat,Modernität somit kein Privileg mehr, sondern universeller Zustand ist, erfahren die Thesen von Robert Malthus eine erstaunliche Renaissance. Was soll künftig als Ventil für den Dampf des Bevölkerungsüberdrucks dienen? Das gilt als vordergründige Herausforderung unserer Zeit.

Zumal, abgesehen von einigen Stämmenin Papua-Neuguinea und am Amazonas, alleMenschen auf Erden den globalen Märkten ausgesetzt und somit vom Geld abhängig sind und alles, was sie umgibt und was sie herstellen, quantifiziert und kommerzialisiert worden ist. Es gibt nur noch zwei Realitäten: Markt und Müll.

Eine enorme Anzahl von Menschen hat durch Kolonialisierung und Globalisierung ihre althergebrachte (Über-)Lebensweiseverloren, und da eine umgekehrte Migration nach Europa und Nordamerika sicherheitspolitisch verhindert wird, wird in Kreisen der wirtschaftlichen Machteliten neuerdings ein erstaunlicher posthumanitärer Cocktail aus neomalthusianischen und neoliberalen Positionen gemixt. Schon 1996erklärte CNN-Gründer Ted Turner der Zeitschrift „Audubon“: „Eine Bevölkerung von weltweit 250 bis 300 Millionen Menschen, also ein Rückgang um etwa 95 Prozent,wäre ideal.“ Im Alter nicht nur weiser, sondern auch gnädiger geworden, formulierte er 2008 beim Philadelphia World Affairs Council das hehre Ziel, die Weltbevölkerung auf zwei Milliarden zu verringern. Zum Wohle der Natur, wohlgemerkt. Wie eine solche Welt aussehen könnte, lebt er selbst vor. Als größter Landbesitzer der Vereinigten Staaten hat Ted Turner gewaltigeGebiete quasi entmenscht und selbst dienachhaltige Nutzung durch Anwohner verboten.

Auch der noch reichere Bill Gates propagiert eine drastische Reduktion der Bevölkerungszahl. In einer Rede aus dem Jahre 2010 (auf YouTube festgehalten) schätzt er, dass „durch neue Impfstoffe und durch bessere Gesundheitsversorgung, vor allem im Bereich der Fortpflanzung“, die Weltbevölkerung, die in absehbarer Zeit auf neun Milliarden anwachsen werde, um zehn bis15 Prozent verringert werden könnte. Das ist eine erstaunliche Aussage, da bekanntlich nicht Polioimpfungen und geringere Kindersterblichkeit das Bevölkerungswachstum bremsen und irgendwann auf null reduzieren, sondern soziokulturelle Entwicklungen wie etwa eine bessere Ausbildung von Frauen (siehe das Beispiel des indischen Bundesstaates Kerala) oder ein weitverbreiteterWohlstand (siehe das Beispiel Deutschland und Österreich). Eine humanitäre Maßnahme, die zu einem Rückgang von einer Milliarde Menschen führt, ist noch nicht gefunden. – Neomalthusianer haben nicht nur in den USA Hochkonjunktur. Die russischeZeitschrift „Ekologitscheski Postmodern“(Ökologische Postmoderne) publizierte vor einigen Jahren einen Bericht zu diesem Thema, der unter anderem eine Tabelle für das Jahr 2007 über „Länder der Welt mit überflüssiger Bevölkerung“ enthielt, definiert gemäß den oben skizzierten, rein ökonomischen Kriterien: Als überflüssig gilt derjenige, dessen Arbeitskraft in den kapitalistischen Kreisläufen nicht profitabel genutzt werden kann. In dieser Statistik werden insgesamt 107 Staaten aufgeführt, in denen mehr als 80 Prozent der Weltbevölkerung beheimatet sind, alles in allem 5.470.982.000 Seelen, bei einer „biologisch zulässigen Bevölkerung“ von 1.922.121.200. (Wie dieseZahl berechnet worden ist, wird verschwiegen.) Die „Überbevölkerung“ beträgt demnach 3.548.868.800. Das war 1965, als ich geboren wurde, etwa die Zahl aller Erdenbewohner. Einen extrem deftigen Menschenüberschuss verzeichnen China (860 Millionen) und Indien (938 Millionen), sodassdort Sparpakete der ganz besonderen Art erforderlich werden dürften. Ebenso auffällig ist, dass in dieser Aufzählung der Überflüssigen weder Russland noch die USA auftauchen. Denn überflüssig sind immer nur die anderen. So wie auch jene, die in passionierten Reden auf internationalen Kongressen eine freiwillige Beschränkung jedes Paares auf ein Kind fordern, selbst eifrig für Nachwuchs sorgen: Ted Turner hat fünf, Bill Gates drei Kinder.

Das ökologische Argument, mit dem diese Schrumpfung der Menschheit gerechtfertigt wird, fällt bei näherer Betrachtung in sich zusammen. Ein Subsistenz- oder Kleinbauer aus der Dritten Welt lebt samt seinen acht, neun oder zehn Kindern um ein Vielfaches nachhaltiger als ein Großstädter einer der Metropolen des Nordens. Ginge es tatsächlich um ökologische Prioritäten, müsste man die Überflüssigen zuallererst unter den Superreichen ausfindig machen, deren persönlicher Verbrauch dem ganzer afrikanischer Städte entspricht. Aber der weißeMann hat sich seit je als besonders wertvoll begriffen, wertvoller als eintausend braune, gelbe oder schwarze Kreaturen. Wer wird schon bestreiten wollen, dass es immer nur die anderen sind, die unseren Planeten zerstören?


Menschen sind wie Müll. Irgendwann weiß man nicht, wohin damit. Je mehr Menschen,desto mehr Müll, also auch Menschenmüll. Je länger wir uns den Zwängen einer frenetischen Wachstumsideologie beugen, die weltweit zu einer blühenden Konjunktur sozialer Ungerechtigkeit führt, desto mehr werden die Grenzen zwischen Mensch und Müll verwischt. In vielen Teilen der Welt ist dies schmerzhaft geläufig: den Roma beziehungsweise den Kopten auf Müllkippen in Bulgarien oder Ägypten, den Einheimischen im Nigerdelta, deren Umwelt durch die Erdölförderung vergiftet worden ist, den Slumbewohnern in Bombay und Nairobi, die ihre provisorischen Behausungen aus Abfall zusammenzimmern, oder den Arbeitern in Alang, die zu Tausenden manuell verschrottete Schiffe auseinandernehmen. Doch auch bei uns leben viele Menschen im Treibsand zwischen Erfolg und Überflüssigkeit. Sie kämpfen darum, nützlich zu bleiben, wesentlich zu werden, im Wettbewerb zubestehen – den drohenden Absturz in die soziale Irrelevanz und materielle Unterversorgung zu vermeiden. Es geht um alles. „To become redundant“ lautet auf Englisch die inzwischen gängige Bezeichnung für den Verlust des Arbeitsplatzes; die wortwörtliche Übersetzung bedeutet „überflüssig werden“. Allein die eigene funktionale Flexibilität, die zunehmend eingefordert wird und immer öfter unter Beweis gestellt werden muss, steht zwischen dem Einzelnen und der Müllhalde. Wer einmal auf dem Müll landet, der kommt nicht zurück. Daran erinnern uns täglich die Obdachlosen, ungepflegte, übel riechende Memento mori einer drohenden gesellschaftlichen Auslöschung.

In der Sprache der Soziologen heißt die neue Klasse jener, die am Rande der eigenen Überflüssigkeit leben, vielmehr dahinvegetieren, „Prekariat“, ein Begriff, der wohl zuerst von dem in München lehrenden Professor Ulrich Beck verwendet wurde. Der Begriff stammt vom lateinischen „precarium“ ab: „gefährlich, verdächtig, riskant, instabil, auf Sand gebaut“. Darunter fallen nicht nur die Langzeitarbeitslosen, sondern auch all jene, die unsicheren Arbeitsverhältnissen ausgeliefert sind, Zeit- und Leiharbeiter, deren Zahl rasant wächst. Es sind die Opfer einer weitreichenden Deregulierung der Arbeitsmärkte, die eine völlige Verfügbarkeit von billigen und austauschbaren Arbeitskräften zum Ziel hat.

An die Stelle der einstigen Arbeitsplatzsicherheit, die eine langfristige Treu-und-Glauben-Beziehung zwischen Arbeitgeberund -nehmer sowie zwischen dem Einzelnen und seiner Tätigkeit enthielt, tritt die Kommodifizierung des Einzelnen, der als Investition nach Gutdünken des Managements sowie den vermeintlichen Zwängen ei- nes globalisierten Wettbewerbs zufolge ohneRücksicht auf seine Bedürfnisse eingesetzt wird und nach getaner Schuldigkeit ohne Kosten und Folgen entsorgtwerden kann. Dieser „Bodensatz“ der Gesellschaft, schichtspezifischer Nachfolger des einstigen Lumpenproletariats, genießt zunehmend weniger Rechte – nicht zuletzt, weil die Gewerkschaften rasch an Einfluss verlieren –, er wird zu einem Bürger dritter Klasse. Da zugleich forcierte Attacken auf die Errungenschaften des Sozialstaates erfolgen, weist das Sicherheitsnetz von Versicherungen, staatlichen Hilfen und Rentenansprüchen inzwischen derart massive Risse auf, dass sich kaum noch einer sorglos auf dem Trampolin des Arbeitslebens austoben kann.

Es ist schwer, genauere Zahlen über das Anwachsen des Prekariats zu recherchieren. Laut Daten der Professoren Klaus Dörre und Frank Deppe von der Universität Jena umfasst es in Japan und Deutschland ein Drittel aller Werktätigen – Länder, die vor nicht so langer Zeit international bewundert wurden für die langfristigen und verlässlichen Beziehungen zwischen Unternehmen und Arbeitnehmern. In Südkorea und Spanien ist es mehr als die Hälfte. Weltweit machen Kernbelegschaften nur noch 20 Prozent aller Arbeitskräfte aus. Manche dieser Werktätigen sind Illegale, die nicht registriert und somit für kein Amt und keinen Wissenschaftler dieser Welt erfassbar sind, sodass die Dunkelziffer mit Sicherheit beträchtlich ist (siehe dazu auch die Statistiken in dem Buch „The Precariat“ von Guy Standing, Bloomsbury 2011). Diese Entwicklung wird sich fortsetzen, denn sie ist so gewollt.

Laut dem jüngst veröffentlichten Programm der konservativen spanischen Regierung zum Kampf gegen die grassierende Jugendarbeitslosigkeit soll viel Geld investiert werden, um junge Menschen zu Unternehmern heranzuziehen! Der kleine, selbstständige, sich selbst ausbeutende und völlig auf sich allein gestellte Dienstleister ist der künftige Held der Arbeit, denn er belastet die Bilanzen nicht und schmälert auch nicht die Profite, er hat keinerlei Sozialnetze, keinerlei Absicherung, er ist ein Drahtseilartist, der beim Absturz nur entsorgt werden muss. Kein Wunder,dass mit dem Anwachsen des Prekariats auch die Zahl der Selbstmorde steigt, eine Folgedes massenhaften Abstiegs in die endgültige Überflüssigkeit. Wenn die Gesellschaft einem Menschen vermittelt, dass er nicht mehr gebraucht wird (es sei denn, er ist Rentier), stellt dieser seine eigene Existenz grundsätzlich infrage.

Es ist dem System bislang gelungen, ein Reservoir an leicht verfügbaren Arbeitskräften anzulegen, ohne massive Proteste zu provozieren. Die Friedfertigkeit der Bevölkerung erklärt sich vielleicht mit dem existenziellen Unterschied zwischen Reservisten und Überflüssigen. Erstere warten mit der grimmigen Energie einer letzten Hoffnung darauf, wieder einberufen zu werden in die Armee der Werktätigen, die Überflüssigen hingegen sind Flaschen ohne Pfand, sie werden weggeworfen, und da derMensch – abgesehen von den Organen, die er verkaufen kann – als Material kaum wertvoller ist als eine leere Weinflasche, gibt es für seine Verschrottung nicht einmal eine Abwrackprämie.

Wer all dies logisch und ohne Sentimentalität, also neoliberal, zu Ende denkt, dem wird klar, dass jene, die langfristig oder gar permanent keinen Beitrag zum Wohlstand der Nation leisten, parasitär leben. Schon stellt sich die Frage, wieso wir diese Parasiten durchfüttern sollen. Der US-amerikanische Präsidentschaftskandidat Mitt Romney tat dies voriges Jahr bei einem Wahlkampfdinner hinter verschlossenen Türen ohne den üblichen euphemistischen Maulkorb kund: 47 Prozent der Bevölkerung seien Parasiten, die vom Staatabhingen, keine Steuern zahlten, Ansprüche stellten und sich zudemnoch als Opfer des Systems begriffen. SeineStimme triefte vor Verachtung, wie man derim Internet kursierenden Aufnahme entnehmen kann. Kaum wurde dieser ehrliche Ausrutscher ruchbar, erklärte Romney in einer eilends einberufenen Pressekonferenz mitzuckriger Stimme, er wolle für all diese Menschen Jobs schaffen, ihnen ein würdigeres Leben ermöglichen. Das ist zynische Augenwischerei. Als international erfolgreicher Geschäftemacher weiß Romney, dass es angesichts fortschreitender Globalisierung und Automatisierung unmöglich sein wird, für den allergrößten Teil dieser Menschen Arbeit zu schaffen.

Die Welt ähnelt immer mehr den Zügen im indischen Bundesstaat Bihar, der rückständigsten und brutalsten Region des Subkontinents. Einige wenige Personen haben es sich in der ersten Klasse bequem gemacht, weitere Halb- und Viertelprivilegierte sind in der zweiten und der dritten Klasse untergebracht, beengt zwar, aber immerhin überdacht, vor der Sonne und dem Regen geschützt – dem der Großteil der Passagiere ausgesetzt ist, auf dem Dach sitzend oder an den Türen hängend oder zwischen den Waggons kauernd. Gelegentlich fällt einer von ihnen aus Müdigkeit und Schwäche vom Zug, während weitere Verzweifelte aufzuspringen versuchen, oft vergeblich, denn der Zug fährt inzwischen mit einer Geschwindigkeit, die es einem unmöglich macht, wie einst in den gemütlichen Hollywood-Filmen dem letzten Waggon hinterherzulaufen. Die Züge rasenin die zwielichte Zukunft, und jene, die sich von außen daran klammern, haben panische Angst, dass ihr schwächer werdender Griff eines düsteren Augenblicks erlahmen wird.


Die Kollateralschäden des Fortschritts schockieren uns, wenn sie ausgesprochen werden und in der gemeinsamen Erinnerung verbrieft sind wie etwa der Holocaust, weniger jedoch, wenn sie stillschweigend hingenommen werden. Weiterhin behaupten führende Intellektuelle, der Massenmord der Nazis sei ein einmaliger Zivilisationsbruch gewesen, was nur jemand ernsthaft vertreten kann, der insgeheim dem Kolonialisierungsprojekt wohlgesinnt ist und die Vernichtung der vormodernen Gesellschaften samt ihren Mitgliedern als historische Notwendigkeit hinnimmt. Was in Europa im 20. Jahrhundert geschah, war die nach innen gerichtete Exterminationsenergie des imperialen, industrialisierten Zeitalters. Die Massenmorde des vorigen Jahrhundertswerden sich wiederholen, wenn es unsnicht gelingt, durch eine Rückbesinnungauf die Ideale der Gerechtigkeit und derWürde des Einzelnen jeglicher Überflüssigmachung des Menschen einen Riegel vorzuschieben.

Denn was wir gegenwärtig erleben, istnicht eine kleine Krise des Kapitals, diebald überwunden sein wird, auf dem Weg zu den blühenden Landschaften der Vollbeschäftigung, sondern ist ein Dauerproblem, das sich verschärfen wird. Wir werden diese Tendenz nicht mit einer inspirierten Steuer- oder Investitionspolitik oder mit weiterer Konsumsteigerung überwinden können.

Dies ist der Beginn des Zusammenbruchsunserer Zivilisation, und wir werden nur die Alternative haben, das System als Ganzes zu überwinden oder tief in einer neuerlichen Barbarei zu versinken. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.03.2013)

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