Das große bisschen

Frau liest in der Bibel
Frau liest in der Bibel(c) Erwin Wodicka - BilderBox.com (Erwin Wodicka - BilderBox.com)
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Brauchen wir noch Religion? Und wenn ja, wozu? Es antworten: Renée Schroeder, Josef Winkler, Leopold Rosenmayr, Lydia Mischkulnig, Marlene Streeruwitz, Konrad Paul Liessmann, Christian Köberl.

Renée Schroeder: Professorin für RNA-Biochemie am Zentrum für Molekulare Biologie, Universität Wien

Brauchen wir noch Religion? Zuerst einmal, wer ist „wir“? Manche Leute, eher viele Leute, wollen einfach eine Religion mit einem väterlichen Gott, bei dem sich nichts ändert, an dem sie sich anhalten können, und empfinden dies als sinngebend und erlösend. Dies muss man erkennen – und Religionsfreiheit ist ein Menschenrecht.

Religionen sind ordnende Prinzipien,welche einen wichtigen und konstanten Beitrag in der Entwicklung der Gesellschaften gespielt haben, aber nur so lange, wie keiner Fragen gestellt hat, ob all diese Lehren denn auch etwas mit der Wahrheit zu tun haben. An Gott zu zweifeln war leider ein Verbrechen, und Götteslästerung ist ja nach wie vor nicht erlaubt. Sobald jedoch jemand auf Wahrheitssuche geht, wird ihm die dogmatische Religion zum Hindernis. Wo Religion zum System politischer Machtausübung zählt, ist keine Demokratie möglich.

In einem modernen Staat des 21. Jahrhunderts sollte das ordnende Prinzip von Gesetzen kommen, welche nach bestem Wissen an die gegebenen Rahmenbedingungen angepasst sind. Trennung von Religion und Staat ist ein Muss in einer Demokratie. Religion sollte Privatsache sein, und Gesetze sollten über den religiösen Geboten stehen.

Gott ist und bleibt ein Mem, eine kulturelle Idee, und es kann nicht Methode der Philosophie oder der Wissenschaft sein, elegante Behauptungen, die man nicht widerlegen kann, in den Raum zu stellen, um dann so zu tun, als habe man die Wahrheit gefunden, nur weil sie nicht widerlegbar ist.

Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der eine Pluralität von Lebensformen toleriert wird, in der Bildung und Wissen den höchsten Rang in der Erziehung der Jugend bekommen, in der Menschenrechte respektiert werden und in der gemeinsam und konstruktiv an Problemlösungen gearbeitet wird. Wir brauchen keine Religionen in einem modernen und gerechten Staat. Das sage ich vor allem als Frau, denn Frauen werden in allen Religionen zum Leiden erzogen.

Josef Winkler: Geboren 1953 in Kamering, Kärnten. Schriftsteller. Büchner-Preis

„Beten ist ganz gewöhnlicher Wahnsinn“, sagt Tolstoi. Schreiben ist ganz gewöhnlicher Wahnsinn, du brauchst ja nur statt Tinte Menschenblut in die Füllfeder zu füllen und „Jesus Faktor Negativ“ schreiben. Und in einem meiner Texte taucht ein eingekleideter Kardinal auf, der ein enthäutetes, noch blutendes Osterlamm im Zeichen des Kreuzes in die Höhe hält und schreibt: „Hitler vonNazareth! König der Juden!“ Ich hatte gehofft, dass mich der damalige Papst Johannes Paul II. dafür exkommuniziert, aber es hat nichts genützt, vielleicht aber schafft es Franziskus. Mir wäre die „Seife“ Krenn als Papst lieber als die „Salbe“ Schönborn, denn niemand verkörperte in der Vergangenheit mit Leib, Seele und Geist die katholische Kirche in Österreich besser als Kurt Krenn und der ausgemergelte, geistesgestörte Mariensäusler Hans Hermann Groër, dessen Unterhose derzeit auf der Auktionsplattform eBay als „Schnäppchen-Reliquie“ angeboten wird,„Authentic relic of Austrian cardinal“ mit Rosenkranz, die man auch „gratis testen“ kann. Seit 20 Jahren fahre ich nach Indien. Seit überzehn Jahren bin ich Hindu. Als ich meinem Vater einmal mitteilte, dass ich aus der katholischen Kirche ausgetreten, zum hinduistischen Glauben übergetreten bin und jetzt vordem Affengott Hanuman niederknie, hat er, der fast hundertjährige Bauer, mich mit weit aufgerissenen Augen angestarrt und entsetzt gerufen: „Wos, du betest jetz an Of on!“ „Jo, Tate“, habe ich geantwortet, „an Of!“

Leopold Rosenmayr: Emeritierter Ordinarius für Soziologie der Universität Wien

„Lasst uns essen und trinken, denn morgen müssen wir sterben“, heißt es in dem von Paulus verfassten Ersten Brief an die Korinther. Sie hatten diesen erschöpften Kämpfer und Prediger wie einen Bruder in die Gemeinde aufgenommen, beglückt und gekräftigt, als er ausgebrannt von seinen Missionsreisen zu ihnen kam. Wäre das nicht eine erste pastoral-theologische Idee für irgendeine christliche Gemeinde in Stadt oder Land? Aufzurufen zu einer gut organisierten, wirkungsvollen Unterstützung und Zuwendung für „müde“ gewordene Menschen?

Im Christentum gäbe es genug Ideen, genug „Botschaften“, um religiöse Menschen oder solche, die um ihre Religiosität ringen, zu inspirieren und herauszufordern. Vom Alltagsleben bis hin zum letzten Tabuthema, dem Tod. Martin Heidegger hatte in „Sein und Zeit“ (1927), als die Gräuel des 20. Jahrhunderts schon hereinbrachen, eine denkende Annäherung eines jeden Menschen(unabhängig von seinem Alter) an seinen jeweils eigenen Tod gefordert. Vom Mut zum Eindringen in den Schatten des Todes erwartet sich der Philosoph die kritische Selbstwerdung, die „Existenz“ anstelle einer bloßen „Geworfenheit ins Leben“.

Aber wer ist denn gewillt, diese Auseinandersetzungen mit sich selbst zu übernehmen? Heute ist die Suche nach einem schnellen, mühelosen „Well-being“ angesagt, bestenfalls garniert mit ein bisschen Religion. Menschen „werfen“ sich lieber in den Pool eines Wellness-Hotels. Aber was geschiehtmit ihren existenziellen Fragen? Welche Antwort oder gar Rettung können sie wo oder bei wem finden?

Beim Aufstapeln von Sinn- und Planlosigkeit angesichts der allseitigen Machtübernahme durch PR-Management und Beeinflussungsmaschinerie sind auch im Sinn von ernsthafter Bemühung um Religiosität neue Orientierungen gefragt. Das kostet Mühe, von oben und von unten. Die Hinwendung zur Sinnfindung müsste ins Zentrum eines zeitgemäßen, selbstständigen Glaubens eines um Religiosität ringenden Menschen rücken. Das traditionelle, fade Ansprechen des Menschen in halb leeren Kirchen reicht dazu ganz offensichtlich nicht mehr aus.

Am Fuße des Sinai, wo Moses sein Viehdahintrieb, erschien ihm „der Engel desHerrn in einer Flamme, die aus einemDornbusch emporschlug“: „Der Dornbuschbrannte und verbrannte doch nicht“ (Exodus 3, 1-2). Es war ein dem Geschehen der Natur entgegengesetzter Prozess des Brennens, nämlich ohne zu verbrennen. Moses fragt ihn, wie er Jahwe nennen solle, Gott antwortet aus dem Dornbusch: „Ich bin der ,Ich bin da‘.“ Mir scheint diese Aussage Jahwes über seine immerwährende Gegenwart und Ansprechbarkeit die Basis für jede Religiosität. Hat man das Gefühl, irgendjemand in der Kirche „brennt“ noch für etwas? Im Grunde nicht einmal die „Ungehorsamen“, aber vielleicht gelingt ihnen ja noch etwas, nicht nur aus Ungehorsam.

Man muss sich in das Grab (in dem ganzen Ernst der Endlichkeit) „hineinducken“, wie Maria aus Magdala, die Jesus sehr liebte, um ihn dort wenigstens als Verstorbenen zu finden (Jo 20,11-13). Sie fand die Engel, wir können heute vielleicht nur deren Licht gelegentlich sehen.

Damit etwas Neues entstehen kann, muss sich etwas verändern, so auch eine Religion, in deren Mittelpunkt die Förderung und Behauptung von Liebe steht. Glaubwürdigkeit entsteht letztlich immer nur durch Handeln und durch den Weg über das eigene Selbst zu diesem Selbst. Wenn die katholische Kirche den neuen Schritt zu den Gestressten, vom Alltag und von ihrer Orientierungslosigkeit überstrapazierten Menschen nicht schafft, wird sie an ihrer eigenen Unfähigkeit zu Änderungen zerbrechen. Sie wird sich als historischer Trümmerhaufen, in kostbare Tücher gehüllt, unglaubwürdig weiterschleppen. Aber vielleicht gelingt es Anhängern einer neuen religiösen Zuversicht gemeinsam mit dem neuen Papst, überraschende Wege in die Zukunft zu finden.

Lydia Mischkulnig: Schriftstellerin, Jahrgang 1963, geboren in Klagenfurt, lebt in Wien

Was ist denn die Religion anderes als ein Rückbindungsverlangen, das uns einen paradiesischen Zustand verspricht, den zu erschaffen auf Erden vielleicht eine Kleinstaaterei erlaubt unter dem Generaldach einer großen Vision, die ein ausreichendes Gemeinschaftsgefühl erzeugen soll und keine Ausstoßungsgemeinschaft? Wer setzt Gemeinschaft durch und bestimmt, wer dazugehört? Wer schafft Ordnung und den Platz für eine hierarchische Struktur, die Zeit für Spiritualität und HEIL HEIL HEIL einräumt? Die Verwaltung und ihr Apparat. Dass der Papst abtritt, ist ein menschlicher Schritt!

Was bringt Religion privat? Moral sagt, was gut und böse ist. Ethik orientiert sich an den Konsequenzen des Handelns. Immer muss man in die Zukunft blicken und Bescheid wissen, wo der Zug ankommen wird, mit dem man abgefahren ist. Was auf Schiene gesetzt ist, muss nicht bleiben. Spring ab! Natürlich brauchen wir keine Religion, schon längst nicht mehr, weil wir vernünftig genug sind, in Beziehung zu leben, und Heilsversprechungen sind uns mit Auschwitz ausgetrieben. Dann aber kommen die Gefühle, wie Hass und Wut, Liebe und Schmerz, das Begehren und die Todsünden, die süchtigen Zustände aus Neid und Völlerei.

Die Suche nach dem Sinn des Lebens ist ja wie die Schriftstellerei. Die Vorstellung, am Anfang des Wortes Luft zu holen, um den Anfang für das Wort zu machen, beschreibt den göttlichen Akt der Schöpfung, an den ich glaube, wenn vom ersten bis zum letzten Satz das Buch gut ist und das nächste besser. Das Buch ist der einzig wahre und richtige Kultraum für Gebete, damit das Menschenmögliche geschehe und nicht irgendein Wille. Wenn nun also die Priester im Allerheiligsten Nachschau halten, wo Gott wohnt, von Runde zu Runde, meinetwegen in der Wiedergeburt, bis Gott tot ist und man selber eine Göttin, sozusagen die Totalintegration trotz grassierender Totalregression schafft, dann lässt sich leben. Und wenn ich nun durch das Schlüsselloch in dieses Allerheiligste schaue und erkenne, dort ist NICHTS, dann erkläre ich ein Wort für ein Wort.

Erst einmal muss man den Mut haben, etwas zu tun, was stärker als jedes Gebot ist. Nachschau halten! Das ist Aufklärung, und sie endet nie. Und sie ist das Vernünftigste, was der Mensch tun kann. Dogma und Indoktrination zügeln Spiritualität, steuern Exzess. Wer schafft die Angst vor der Vergänglichkeit weg? Der Flow als Ritual, wenn Worte fließen, Autonomie lebt, überwundene Eltern nicht durch Instanzen ersetzt werden.

Also ganz konkret, brauchen wir noch Religion? Ja klar, zum Spielen.

Marlene Streeruwitz: Schriftstellerin, geboren 1950 in Baden. Prosa und Theaterstücke

Wir. Das ist doch immer gleich die Verwaltung der Religion in Kirchen oder Glaubensgemeinschaften. In den meisten Fällen gerät jeder oder jede von uns schicksalhaft in eine dieser Zwangsgemeinschaften. Und damit in ein solches Wir. Geburt. Erziehung. Lebensweg. Selten Entscheidung. Und Geistigkeit? Also das Interesse am eigenen Innenleben? Verwaltungen mögen solche Einzellösungen und Einzelinteressen nicht. Die Verwaltung von Religionen am allerwenigsten. Es geht ja um dieses Wir als Zusammenschluss zu einer Machtgemeinschaft.

Dennoch. Wir. Das stellen wir heute über die Verfassung her. Es gibt nichts Apostolisches mehr. Wir müssen nicht mehr in den Gehorsam Gott, Kaiser und dem Vaterland gegenüber gebunden werden. Wir haben uns zu Einzelnen gemacht und treffen immer wieder Entscheidungen über das Wir. Immerhin. Und. Die demokratischen Wahlen haben die eine Wahl aufgehoben, in der einer Religion für immer und ewig zu folgen gewesen war. Wer will, der kann ja an der „Tankstelle der Seele“ (Kardinal Schönborn am 10. Juni 2006) metaphysische Verdammung tanken.

Und dann. Was einmal die Religion erzwingen musste. Nämlich Arbeitszwang und Triebverzicht und die Anerkennung der Macht. Das vermittelt uns heute die Werbung. Der allwirksame und allanwesendekapitalistische Markt weiß schließlich auch, worum es geht: Ruhe und Ordnung. Ruhe. Das heißt die Beseitigung von Unruhefaktoren. Also Konsum.

Dazu werden – durchaus in Nachahmung einer Christlichkeit – der Körper und der Schmerz als Zurichtungshilfen eingesetzt. Der Bilderdienst der Medien sorgt zwischen den Werbeeinschaltungen dafür. Und Ordnung. Die besteht darin, dass wir alle unsere Rechnungen zahlen. Das versüßt uns die Werbung mit Emotionalität. Wir müssen ein Gefühl schon haben oder bekommen, um zum Produkt zu passen. Auch das Christlichkeit. Erst die vollkommene Hingabe erlaubt den Zugang zur Belohnung in den Sakramenten. Das ist kulturelle Postchristlichkeit im Heilsversprechen eines Wir als Konsumenten. Und nein. Das brauchen wir nicht, aber haben es noch.

Konrad Paul Liessmann: Professor für Philosophie an der Universität Wien, Essayist, Kulturpublizist

Wozu noch Religion? Gott sei Dank gehört diese Frage zu jenen, die ganz einfach zu beantworten sind. Genauer: Diese Frage muss erst gar nicht beantwortet werden, sie zu stellen bedeutet schon, die Antwort zu geben.

Wer nach einem Wozu von Religionfragt, fragt offenbar nach möglichen sozialen, kulturellen, psychologischen Funktionen, die Religion einmal erfüllt haben mag, die aber nun, im Zeitalter der Wissenschaft, womöglich nicht mehr nötig sind. Wer diese Frage stellt, vertritt also eine funktionalistische Theorie der Religion.

Wer solch eine Theorie vertritt, kann die damit unterstellte Funktion von Religion aber nur bei anderen beobachten, nicht an sich selbst. Kein religiöser Mensch käme auf die Idee, nach der Funktion seiner Religion in dieser Welt zu fragen. Sie ist sein Sinn, seine Wahrheit und sein Leben. Er mag an manchen Glaubenssätzen zweifeln, mit seiner Kirche in Konflikt geraten, mit seinem Gott hadern – aber er glaubt nicht, weil er der Auffassung wäre, dass die Religion wichtige soziale oder therapeutische Funktionen hätte.

Von dem Soziologen Niklas Luhmannstammt die Bemerkung, dass die Religionssoziologie davon lebt, dass es Religionen gibt, die nicht an die Religionssoziologie glauben. Wer die Frage „Wozu noch Religion?“ stellt, glaubt nicht nur an die Religionssoziologie, sondern auch daran, dass die durch die Religionssoziologie freigelegten Funktionen der Religionen durch bessere Verfahren wie Wissenschaft und Technik, Sport und Kunst überboten und ersetzt werden können. Sonst ergäbe das „noch“ keinen Sinn. Religion bleibt aus dieser Perspektive ein – sagen wir einmal – Kontingenzbewältigungsstrategie von Menschen und Gemeinschaften, die weder diesen Funktionszusammenhang durchschaut nochdurch Aufklärung, Geld und Kulturindustrie hinter sich gelassen haben.

Und weil das so ist, ändert sich daran auch nichts, wenn man onkelhaft zugibt, dass in der Tat die Wissenschaft noch nicht alle Fragen beantworten kann, Hollywood nicht immer tröstet, Geld nicht immer glücklich macht und deshalb für einige wenige letzte Fragen – den Sinn des Daseins, die Auseinandersetzung mit dem Tod, den Ursprung des Universums, die letztenGrundlagen der Sittlichkeit, die Erfahrung der Endlichkeit, Hinfälligkeit und Zufälligkeit – Religionen noch immer eine gewisse Funktion haben können: Sie trösten, sie beruhigen, sie stiften Gemeinschaften und Traditionen, sie ordnen das soziale Leben, siemachen sogar noch Transzendenzangebote. Das mag ja alles stimmen. Nur, wer so denkt,wird deshalb nicht religiös werden – wer wollte an einen Gott glauben, von dem erweiß, dass er nur eine aus einer psychischen oder sozialen Notlage geborene Projektion des Menschen ist?

Wer nach einem Wozu von Religionen fragt, darf deren Wahrheiten nicht anerkennen. Umgekehrt: Wer tatsächlich an einen Gott glaubt, darf nach der sozialen, psychohygienischen oder kulturellen Funktion dieses Gottes gerade nicht fragen. Anders formuliert: Die Frage „Wozu noch Religion?“ können nur Nichtgläubige stellen. Damit ist die Frage aber auch schon beantwortet. Dennfür Nichtgläubige selbst hat die Religion keine Funktion mehr, diese gilt nur für die noch nicht Nichtgläubigen. Für diese aber stellt sich die Frage nicht.

Christian Köberl: Impaktforscher an der Universität Wien, Direktor des Naturhistorischen Museums Wien

Brauchen wir noch Religion? Die Frage ist vielleicht: welche Religion? Religion ist für mich etwas Abstraktes und auch etwas sehr Persönliches, jeder Mensch muss für sich entscheiden und entscheiden können, ob er überhaupt einer Religion angehören möchte (und welcher). Was ich ablehne: eine Religion, der man zwangsweise unterworfen wird – und Religion als politisches, soziales Instrument, wie es in manchen Teilen der Welt nach wie vor gehandhabt wird. Diese Form von Religion brauchen wir nicht, die hat zu sehr vielen Kriegen geführt.

Man braucht nur zu beobachten, was in manchen Gebieten des Mittleren Ostens derzeit los ist, wo bestimmte Gruppen unter dem Deckmantel der Religion brutale Vernichtungsfeldzüge gegeneinander führen. Solche Religionen halte ich nicht nur für entbehrlich, sondern für verachtenswert, weil sie den Menschen seines freien Willens beraubt, in ein Korsett zwängt.

Ich möchte niemandem seine Religion wegnehmen. Ich selbst aber glaube nicht. Alles ist ja im Fluss. Und die Religionen, die heutzutage die großen Weltreligionen sind, Christentum, Islam und Buddhismus, die hat es vor ein paar Tausend Jahren noch gar nicht gegeben. Damals hatten die Menschen andere Religionen, und sie waren genauso überzeugt und begeistert von ihren Religionen. Ihre Götter gibt es heute alle nicht mehr. Und genauso wird es in 2000, 3000 Jahren wieder andere geben, so es uns noch geben wird. Also, von welcher Religion reden wir denn eigentlich? Die, die wir gerade jetzt haben – und was zeichnet die als etwas Besonderes aus?

Der Himmel beschäftigt mich schon seit Jugendtagen. Ich war bereits als 15-Jähriger in der Amateurastronomie tätig, habe dann auch Astronomie studiert, einfach weil mich dieses Thema interessiert hat. Aber vom naturkundlich-physikalischen Ansatz her: Irgendwelche metaphysisch-religiösen Gefühle beim Betrachten des Nachthimmels sind bei mir nie aufgekommen, sondern nur der Wunsch zu verstehen, wie die Sterne funktionieren.

Als Laplace sein Werk über die Bewegungen der Himmelskörper Napoleon überreichte, wurde er gefragt, warum Gott darin nicht vorkommt. Und da soll er geantwortet haben: Ich benötige diese Hypothese nicht. Ein bisschen davon steckt wahrscheinlich in jedem Naturwissenschaftler drinnen. Und ganz bestimmt auch in mir. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.03.2013)

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