Anders sehen

Wie Kunst Blinde und Sehende verbindet. Nachschau im Bundes-Blindenerziehungsinstitut in der Wiener Leopoldstadt und in einer außergewöhnlichen Sammlung im Benediktinerstift Admont.

Im Bundes-Blindenerziehungsinstitut im zweiten Wiener Gemeindebezirklernen Kinder und junge Leute zwischen drei und 23 Jahren für sich und das Leben. Es gibt Abteilungen für verschiedene Altersstufen und Bedürfnisse: Kindergarten, Volksschule, Handelsschule, Polytechnikum, Orientierungsklassen, auch einen Lehrgang für Telekommunikation, eine modifizierte Ausbildung zu Telefonisten. Darf man die Schüler als „Blinde“ bezeichnen? „Wir gehen ganz normal damit um. Es wird direkt ausgesprochen. Die Blindheitoder Sehbehinderung ist gegeben. Blind bedeutet keine Stigmatisierung.“ Susanne Alteneder ist die Direktorin der Schule. Seit 37 Jahren arbeitet sie hier.

Ich schaue in verschiedene Klassen hinein. „Wer sind Sie?“ – „Ich heiße Koschka.“ –„Was ist das für ein Name?“ – „Mein Vater hat den aus russischer Kriegsgefangenschaft mitgebracht.“ – „Und wie viele Sprachen sprechen Sie?“ – „Na ja, irgendwie Englisch, Französisch und Rumänisch.“ – „Was heißt ,eins‘ auf Rumänisch?“ – „Unu.“ – „Und weiter?“ – „Unu, doi, trei, patru ... zece.“ Im Nu kann Sami auf Rumänisch von eins bis zehn zählen. Er ist 17 Jahre alt, Computerfreak, Österreicher türkischer Abstammung und blind. Hier im Bundes-Blindenerziehungsinstitut (Abteilung Handelsschule) bereitet ersich auf seinen Beruf vor. Er wird später einenJob im Büro suchen. Alle in diesem Raum sitzen vor ihren Computern und hoffen auf einen Arbeitsplatz im Büro.

Ungefähr ein Viertel der Schüler und Internatsschüler ist mehrfach und schwerst mehrfach behindert. Es gibt eigene Lehrpläne. Direktorin Alteneder: „Auch Menschen, die intellektuell nicht so gut beisammen sind, also keine Handelsschule oder Ähnliches schaffen, können eine sehr sinnvolle Arbeit machen. Wir setzen schon bei kleinen Kindern an. Sie sollen lernen, mit Sehbehinderung oder Blindheit umzugehen. Sie sollen erkennen, was sie gut können. Viele basteln, malen, modellieren und singen gerne.“

Und tatsächlich summt und brummt es aus vielen Klassenzimmern. Ernie Gartner, Handelslehrerin an der Schule, führt mich durch das Haus. In dem großen Saal wird Theater gespielt, musiziert und bei Schulbällen getanzt. An einem Klavier übt eine blinde Schülerin. „Über Musik kann man die Persönlichkeit junger Menschen stärken. Auch Otto Lechner, der grandiose Akkordeonspieler, war – in seiner Erblindungsphase – an dieser Schule. Manchmal spielt er auch bei uns. Aber wir wollen vor allem, dass unsere Schüler aus der Schule hinaus in die Welt kommen.“ Etwa zu einer Probe der Philharmoniker im Musikverein oder zu einer Ausstellung im Belvedere. Kunst können die meisten ihrer Schützlinge nicht sehen, aber spüren, empfinden, sich erklären lassen und – natürlich – anfassen. So wie die Karyatiden im Musikverein, zusätzlich zum wunderbaren Erlebnis der Musik. Frau Gartner, 2011 von einer österreichischen Zeitung als „Teacher of the Year“ ausgezeichnet, wünscht sich für alle Menschen, auch für ihre blinden Schüler, „mehr Bildung auf vielen Ebenen und weniger Marktorientiertheit in der Kunst“.

Zeitgenössisches, made for Admont

Im vergangenen Jahr hat eine Gruppe von Schülern des Bundes-Blindenerziehungsinstitutes eine weltweit einzigartige Ausstellung im Benediktinerstift Admont in der Steiermark besucht: „Jenseits des Sehens – Kunst verbindet Blinde und Sehende“. Objekte, Installationen, Klangskulpturen, multimediale Werke und Bilder. Bilder? Die Erklärungen dazu stehen in Brailleschrift daneben, sodass Blinde den Sehenden den Inhalt erklären müssen. Blinde und Sehende werden für kurze Zeit eine Gemeinschaft. Jeder erklärt, was er „sieht“. Ja, man kann ruhig „sehen“ sagen, meint die Lehrerin Ernie Gartner. „Diese Menschen sehen auch, nur anders.“

Künstler und Künstlerinnen wurden beauftragt, sich mit der Welt blinder Menschen in vielfacher Weise auseinanderzusetzen – medizinisch, philosophisch, sozial und kunsthistorisch. Ihre Werke sollten ebenso Sehenden zugänglich gemacht werden. „Die Wahrnehmung dieser Sammlung über die Augen steht nicht im Vordergrund“, meint Kurator Michael Braunsteiner. Und „die Kunstwerke können von Blinden und Sehenden mit verbundenen Augen ganz unterschiedlich erlebt werden“. Ein Erfahrungsaustausch kann stattfinden.

Diese von zeitgenössischen Künstlern geschaffenen „Made-for-Admont“-Werke lassen sich berühren, ertasten, hören, riechen. Der große silberne „Apfel“ von Werner Reiterer zum Beispiel hat mehrere Funktionen: Ein Lichtblitz gibt für Blinde Wärme ab, während Sehende kurzzeitig geblendet werden. Drückt man einen Knopf, ruft ein Echolot hintereinander vier im Raum verteilte Lautsprecher ab.

Der „endlose Knoten“, ein Symbol in vielen Kulturen, steht im christlichen Zusammenhang für die Dreifaltigkeit, die man hier berühren darf. Tafelbilder aus Glas werden zu Klangskulpturen, die auf Knopfdruck einzelne Worte oder auch elektrische Klänge hervorbringen. „Fabelwesen“ kann man ertasten, Legosteine werden zu Brailleschrift, Schallmauern und Resonanzkörper treten in Aktion, man begegnet hochtechnoiden Kunstwerken oder gefundenen Alltagsgegenständen. Man kann sogar mit verbundenenAugen ein Gartenlabyrinth betreten und wird von Blinden geführt. Die vollblinde Schülerin Barbara meinte nach dem Besuch in Admont: „Besonders daran war, dass man alles angreifen durfte, was bei normalen Ausstellungen ja nicht der Fall ist. Etwa ein Kunstwerk aus Metall, das wohl nichts Bestimmtes darstellen sollte und von dem sich jeder seine eigene Vorstellung machen konnte. Man konnte in ein Gehäuse hineinkriechen und sich die Geräusche anhören, die ein Baby im Mutterbauch hört. Es gab auch Dinge, die sich ein Blinder gemeinsam mit einem Sehenden erarbeiten konnte, Bilder, die teilweise verdeckt waren. Die verdeckten Stellen wurden in Blindenschrift beschrieben. Also musste der Blinde lesen und der Sehende beschreiben, damit sich beide das ganze Bild vorstellen konnten. Ich fand die Ausstellung sehr interessant und – wenn man das in diesem Zusammenhang sagen darf – äußerst sehenswert.“

Ganz im Sinne des Ordensgründers Benedikt von Nursia sei diese Ausstellung, meint der Kulturbeauftrage und Subprior des Stiftes Admont, Pater Winfried. Er ist der Initiator der Sammlung „Jenseits des Sehens“. Benedikt habe sich besonders um die Randgruppen der Gesellschaft gekümmert, um Arme und Kranke. Mittlerweile hat sich das gesellschaftliche Bild vom Menschen vehement geändert. Blinde werden heute nicht mehr als „krank“ bezeichnet. Kunst und Blindsein? „Spannende Fragen ergeben sich“, so Pater Winfried. „Welche Funktion haben verschiedene sinnliche Wahrnehmungen für die Deutung von Kunst? Erschließt die Aktivierung und Schärfung ungenutzter Sinne neue Erfahrungshorizonte? Eröffnet das Nichtsehen womöglich andere Sichtweisen in der Kunst?“

Diese Sammlung von zunächst 25 Objekten soll nach und nach erweitert und auch außerhalb von Österreich gezeigt werden. Der Abt des Stiftes Admont, Bruno Hubl, fördert die außergewöhnliche Ausstellungstätigkeit. „Selbstverständlich verweist auch die größte Klosterbibliothek der Welt, die sich in unserem Stift befindet und die vielfach als ein Weltwunder betrachtet wird, auf die Tiefe menschlichen Fragens und die Suche nach Antwort.“ Abt Bruno nahm 2012 den österreichischen Kunstpreis „Maecenas“ für die Förderung von Kunstprojekten entgegen. Erstmals in der Geschichte dieser Verleihung ging ein Preis an eine kirchliche Institution. Das „unabhängige Wirtschaftskomitee“ verlieh dem Stift Admont und seinen besonderen Kunstaktivitäten allerdings nur einen „Anerkennungspreis“. Außerordentliche Kunstaktivitäten der Kirche in Österreich, die Beschäftigung mit moderner Kunst für alle Menschen hätten einen besseren Platz verdient. Weil sie so selten sind.

Grenzüberschreitend arbeitet auch die Berliner Künstlerin Heike Ponwitz. Sie ist eine Spezialistin auf dem Gebiet der Erinnerungskultur. In ihren poetischen Arbeiten spielen Worte, Schriften, Texte eine zentrale Rolle. Für die Admonter Sammlung „Jenseits des Sehens“ arbeitet sie an einem Bild in der Art alter Handschriften. Blattsilber, eine Mischtechnik aus Wachs, Pigment, Kreide auf Leinwand, ein Text auf mehreren Zeilen in Brailleschrift: „Schließe die Augen, dann wirst du sehen...“, so der Titel dieses Bildes.

Ausstellung der anderen Art geplant

Mit der Frage „Kunst für Blinde und Sehende“ beschäftigt sich auch der österreichische Künstler Oswald Oberhuber. Wie kann man sich in einen Blinden hineinfühlen? „Der Blinde hat Empfindungsmöglichkeiten,die der Sehende nicht hat. Blinde müssen in einer ganz anderen Weise aufmerksam werden. Das, was wir sehen, ertastet der Blinde. Und vielleicht mit mehr Empfindlichkeit als wir. Es ist ein langsameres, intensiveres Erfassen der Materie. Stein, Eisen, Holz – da gibt es verschiedene Temperaturen. Der Blinde erfasst. Er muss sich mehr erarbeiten. Was wir sehen, ertastet er. Künstlerische Gefühlsmomente, die in einer Skulptur oder in einem Bild sind, kann er nicht ertasten. Etwa Weinen oder Lachen, das ist schwierig. Aber Blinde werden – anders als Sehende – von äußeren Vorgängen nicht abgelenkt. Vielleicht sehen sie ja mehr?“

Oberhuber zweifelt daran, ob man Kunstwerke speziell für Blinde schaffen soll. „Blinde Menschen können ja auch eine Skulptur von Wotruba, Picasso oder Giacometti wahrnehmen. Auf alle Fälle werden Sinne aktiviert. Museen sollten aber viel mehr zulassen, dass bestimmte Gegenstände, die nicht beschädigt werden können, von Nichtsehenden ertastet werden dürfen.“

Pater Winfried versucht, Ausstellungsmöglichkeiten für die außergewöhnliche Admonter Sammlung auch im Ausland zu finden. Das Interesse ist groß. Eine Präsentation in einer großen Halle in Moskau im Herbst 2013 scheint gesichert. Auch Brüssel hat angefragt. Oft übersteigen die Transportkosten der mitunter großen Objekte freilich die Budgets der Veranstalter. Vielleicht bekommt Pater Winfried ja Hilfe vom Gründungsvater des Benediktinerordens: Denn Benedikt von Nursia war doch der Vater des Gedankens dieser Sammlung.

Zurück ins Bundes-Blindenerziehungsinstitut in Wien. In der Kindergartenklasse werden Pferde aus Karton gebastelt, Schwanzund Rückenhaare sind aus Wolle. Wie immer die Frage: „Wer bist du?“ Alle sind fröhlich. Kleine Künstler, die stolz auf ihre Werke sind. Eine Ausstellung der anderen Art ist geplant. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.04.2013)

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