Der Atem der Kirche

Kubas katholischer Klerus steuert die Revolution zur sanften Landung.

Immer sichtbarer überlagert der „Raúlismo“ den verwitterten „Fidelismo“. Havannas Alltag brummt mit den vielfältigen Mikro-Privatinitiativen. Im Jänner verschwand die „Tarjeta Blanca“, der verhasste Ausreisestempel im Pass. Wer heute die Devisen für Pass und Flug und ein Visum für das Gastland schafft, darf ausfliegen. Auf einer Internetseite stehen Fahrzeuge, Kühlschränke, Häuser zum Verkauf. Kulturell dröhnt der Sound von Reggaeton.
In der Folge stellt sich die Frage nach den Gewinnern und Verlierern. Verlierer sind vor allem die Rentner und Afrokubaner ohne Verwandte im Ausland, die Geld überweisen. Die maximal 250 kubanischen Pesos (etwa zwölf Dollar) monatlich reichen nicht zum Leben. In Havanna wird wieder gebettelt.
Havannas „neue Armut“ wird auf 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung geschätzt, Kuba sackt auf internationalen Rankings, die Gleichheit messen, ab. Omar Everleny Pérez von der Universität La Habana argumentiert mit ähnlich negativen Statistiken in der katholischen Zeitschrift „Espacio Laical“. Dass ein Professor ebendort sensible Daten präsentieren darf, zeigt: Die Revolution hat Frieden mit der Religion geschlossen, ja, sie instrumentalisiert die katholische Kirche für ihre Zwecke. Das sichert der Kirche Bewegungsfreiheit, freilich um den Preis des Verzichts auf Revolutionskritik.
Wie alle revolutionären Bewegungen Lateinamerikas im 20. Jahrhundert standen auch Kubas „barbudos“ im agnostischen Lager. Religion als „oscurantismo religioso“ würde wohl von selbst verschwinden. Allerdings hatte der Fidelismo das Bedürfnis der Bevölkerung nach Transzendenz unterschätzt. Kubas Eigendefinition als „atheistischer Staat“ hatte keinen Bestand und wurde daher 1992 „laizistischen Staat“ korrigiert, der allen Kulten Toleranz einräumte – auch der katholischen Kirche, obschon diese vor der Revolution hauptsächlich die Bourgeoisie von Havanna betreut hatte.
Nachdem deren Angehörige nach 1959/60 fast vollständig nach Miami übersiedelt waren, blieb eine kirchliche Kerngruppe übrig, die eine Koexistenz mit der Revolution bezog. Zum Durchbruch kam es 1985, als in Havanna im Staatsverlag das Buch „Fidel y la religión“ („Nachtgespräch mit Fidel“), ein Interview des brasilianischen Dominikaners Frei Betto mit Fidel, erschien. Ohne jede Werbung des Verlags war der Band in wenigen Stunden vergriffen.
Fidel musste einsehen: Die These von Religion als Opium des Volkes war falsch. So begann die Revolution Fühler zur katholischen Kirche auszustrecken. Diese verzichtete auf die oppositionelle Rolle und begann eine Kohabitation. Mit Erfolg, wie zwei Papstbesuche zeigen.
Kubas Revolution rechnete es der Kirche hoch an, dass sie keine Umarmung mit den politischen Dissidenten einging. Zwar setzt Kubas katholische Führung sich diskret für die Freilassung von Gefangenen ein und pocht sanft auf Meinungsfreiheit. Ansonsten ist sie aber gegenüber der Staatsführung auf Harmonie bedacht. Dafür erhält sie Baumaterial für die Renovierung von Kirchen, darf wieder ein Priesterseminar führen und diözesane Kirchenblätter drucken.
Angesichts der „neuen Armut“ in Havanna kommt es dem Raúlismo zupass, dass die Kirche nicht nur Seel-, sondern auch Leibsorge betreibt: Kubas katholische Caritas betreut Alte, unterhält Suppenküchen und wagt sich sogar in den Bereich Mikrokredite für Kleinbauern. Auf diese Weise steuern heute zwei ideologische Gegner Seite an Seite die Zuckerinsel in die Zukunft. Raúl Castro bleibt die Frist bis 2018; die katholische Kirche hält den längeren Atem. Geht alles gut, trägt sie zur „sanften Landung“ des kubanischen Revolutionsmodells bei. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.05.2013)

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