„Ein Buhruf bedeutet nichts“

Dominique Meyer weist auf seine Schuhe: „Nijinski ließ seine Tänzer eine Stellung einnehmen, die für das klassische Ballett undenkbar war. Ein Tabubruch.“ Vor 100 Jahren: der Skandal um „Le Sacre du Printemps“. Auf Spurensuche im Théâtre des Champs Elysées, an der Seite des vormaligen Hausherrn und jetzigen Wiener Staatsoperndirektors.

Lokalaugenschein im eleganten Pariser Théâtre des Champs Elysées. Vor 100 Jahren ging es hier recht unelegant zu. Anlässlich der Balletturaufführung von Vaclav Nijinskis „Le Sacre du Printemps“ zur Musik von Igor Strawinsky entzündete sich ein Theaterskandal mit allem, was dazugehört: hysterischem Gejohle, unflätigem Protest – schließlich: Handgemenge und Tumult.

Dominique Meyer, von 1999 bis Ende der Spielzeit 2009/10 Intendant und künstlerischer Leiter jenes Théâtre des Champs Elysées, führt auf den Spuren des unheiligen „Frühlingsopfers“ durch „sein“ ehemaliges Haus: Das architektonische Kleinod liegt in Pariser Bestlage. Während Meyers Ära wurden hier subtil-substanzielle Renovierungen durchgeführt, so, dass sich heute alles strahlend, aber strikt im Originalzustand von 1913 präsentiert.

Auch die 100-Jahr-Jubiläums-Wiederaufführung des „Sacre“-Balletts Ende Mai – zweifach, in der Originalchoreografie von Nijinski und in einer modernen Version von Sasha Waltz – ist nur möglich, weil der Orchestergraben auf die ursprüngliche Fläche vergrößert wurde. Genau diese Riesenbesetzung ist notwendig, um alle vom Komponisten gewünschten Effekte zu erzielen.

„Le Sacre du Printemps“ zählt übrigens, unabhängig vom Skandal, den er auslöste, zu den Stücken, die schon vor ihrer Uraufführung Anlass für umfangreiche Erklärungen boten. So erschien am 29.Mai 1913 – fälschlicherweise unter Strawinskys Namen – ein Artikel, in dem über den Zweck der Partitur philosophiert wurde. Sie wolle „dem sublimen Hervorquellen der sich erneuernden Natur mit panhaftem Ausbrechen alles durchdringender Säfte Ausdruck verleihen“. Strawinsky selbst war sich wohl bewusst, dass er mit seiner Partitur einen Markstein der musikalischen Moderne geschaffen hatte. Um die spontane Wirkung quasi noch zu steigern, hatte man die Choreografie in die Hände Nijinskis gelegt. Dadurch waren Verstörungspotenzial und Provokationsdosis nochmals stark erhöht.

Während jedoch Strawinsky die tänzerische Umsetzung seiner Partitur in einfachen rhythmischen Blockbewegungen sah, die das Elementare der Klänge unterstreichen sollten, konzipierte Nijinski eigenständige Schrittfolgen – in so verlangsamtem Tempo, dass die Truppe der Ballets Russes sofort irritiert war, sobald im Orchestergraben das Originaltempo angeschlagen wurde.

Schon während der Proben – dem Dirigenten der Uraufführung, Pierre Monteux, hatte man für die musikalische Einstudierung sieben zugestanden, Nijinski verbrauchte 130 (!) Proben, die sich über fast ein Jahr hinzogen – kamen die Tänzer immer wieder aus dem Takt. Daraufhin bestieg Nijinski regelmäßig im Bühnenhintergrund einen Sessel und griff ein, indem er laut brüllend seinen Balletttakt vorgab.

Prägend für das Image des Saals

Dominique Meyer: „Strawinsky hat ursprünglich behauptet, Nijinski habe seine musikalischen Ideen perfekt choreografisch umgesetzt, er sprach sogar von einer gelungenen extremsten Synchronisierung von Musik und Tanz. Doch in den 1930er-Jahren, rückte er von dieser Meinung ab und distanzierte sich von Nijinski. Freilich hatte Strawinsky damals bereits einen ganz anderen Komponierstil für sich gefunden.“

Bei unserem Rundgang zwecks „Spurensicherung“ kommen wir nur etappenweise voran, denn Dominique Meyer findet an so vielen „Ecken“ des Rundbaus Anknüpfungspunkte und knüpft kulturgeschichtliche Assoziationsketten. Er ist davon überzeugt, dass jener Initiationsskandal vom 29.Mai 1913 „prägend war für das Image des Saales. Man muss bedenken: Damals war hier alles neu. Das Gebäude war erst kurz vor der ,Sacre‘-Uraufführung eröffnet worden, ein modernes Gesamtkunstwerk, in dem Malerei, Skulptur und Architektur einander ideal ergänzen. Dank der innovativen Stahlbauweise kam man ganz ohne stützende Säulen aus – man kann von überall gut auf die Bühne sehen.“

Auch das mag im Mai 1913 dafür ausschlaggebend gewesen sein, dass der Protest flächendeckend ausfiel, denn die Optik des Balletts war für das Publikum mindestens so verstörend wie die Musik. Jean Cocteau, Zeuge des als „Massacre du printemps“ in die Theatergeschichte eingegangenen Ereignisses, notierte später, der Saal habe genau die ihm zugedachte Rolle gespielt – und das verwöhnte, mondäne Publikum so reagiert, als ob es aus Hängematten nach dem Neuen geschlagen hätte – wie nach Mücken, die stören. Statt der unbequemen, engen Klappstühle, die im Paris des Fin de Siècle üblich waren, gibt es hier tatsächlich große Fauteuils – auch die sind übrigens original aus dem Jahr 1913 erhalten.

Dominique Meyer steuert auf Reihe D, Nummer 15 zu. „Hier stand der Sitz mit der Nummer 111, auf dem Strawinsky saß, als der Tumult losging. Er sprang vom Sessel, um zu Nijinski nach vorne zu eilen.“ Ganz unvorbereitet traf der Skandal die Beteiligten nicht. Meyer: „Schon in der Generalprobe munkelte man, es werde zu einem Wirbel kommen. Dirigent Monteux war vorgewarnt. Nur seiner Ruhe war es zu verdanken, dass nicht abgebrochen, sondern bis zur letzten Note gespielt wurde. Auch Impresario Diaghilev – er war es, der die Truppe der Ballets Russes schon 1910 zu Strawinskys ,Feuervogel‘-Premiere erfolgreich nach Paris vermittelt hatte – redete den Tänzern im Vorfeld zu, auf jeden Fall weiterzumachen – egal, was passieren möge.“ Nicht alle freilich witterten den Skandal. Just Strawinskys Komponistenkollegen Claude Debussy und Maurice Ravel waren nach dem Besuch der Generalprobe geradezu enthusiastisch.

Ravel war es dann auch, der während der wilden Szenen, die parallel zu denen auf der Bühne im Zuschauerraum abliefen, am Uraufführungsabend „Genie! Genie!“ in Richtung Bühne brüllte. Die Vorstellung, dass Ravels Sitznachbarin ihn mit „Sale Juif“ (dreckiger Jude) zum Schweigen bringen wollte, katapultiert uns gedanklich perfekt in die Szenerie, die wir heute mit dem Wort „Skandal“ umreißen: Es bleibt nicht bei den Verbalinjurien, es folgen Ohrfeigen, schließlich ist es im Saal so laut, dass die Tänzer das Orchester nicht mehr hören können.

Dominique Meyer deutet auf seine Schuhe und demonstriert: „Es begann schon mit der Fußstellung. Nijinski ließ seine Tänzer eine Stellung einnehmen, die für das klassische Ballett undenkbar war. Ein Tabubruch.“ Nach dem skandalösen Start, der übrigens in ein konventionelles Programm verpackt war, wurde „Le Sacre du Printemps“ noch weitere acht Mal – gänzlich skandalfrei – aufgeführt. Ein Jahr später, im April 1914, löste eine konzertante Aufführung im Casino de Paris sogar triumphale Reaktionen aus. Der Kritiker Pierre Lalo, der anlässlich der Uraufführung das Stück als „lächerlich“ bezeichnet hatte, änderte seine Meinung plötzlich und befand: Nur Nijinski war 1913 das Skandalon. Dominique Meyer: „Im ,Sacre du Printemps‘ hatten sich Choreografie und Musik befreit.“ Nachsatz: „Doch das Publikum war noch nicht befreit.“ Frage an den Intendanten: Ist es das heute? „Ein Buhruf bedeutet gar nichts“, relativiert Meyer die Frage, ob eine so prononcierte Ablehnung einer Novität 2013 noch denkbar wäre. Heute entladen sich negative Publikumseindrücke ja erfahrungsgemäß ausschließlich in Buhrufen...

Die Erdbebenreaktion, die das Publikum Paris vor hundert Jahren bescherte, ging freilich auf eine massive Doppelexplosion zurück. Deren Druckwellen sind bis heute spürbar. Meyer erläutert: Wann immer in seiner Zeit als Intendant hier, im Théâtre des Champs Elysées, Gastorchester eintrafen, war die tumultöse Eingangsszene des „Sacre“ sogleich hörbar. Denn kaum ein erster Fagottist lässt es sich nehmen, sofort in den Orchestergraben zu verschwinden, um von dort aus in das leere Auditorium das berüchtigte Anfangssolo des „Sacre“ zu intonieren.

Das ungewohnte Fagott

Dominique Meyer: „Das Fagott als Soloinstrument mit ungewohnt hoch liegenden Tönen entfachte offensichtlich eine Wirkung, die wohl unmittelbar so traf wie der scheinbar verfrühte Horneinsatz im ersten Satz von Beethovens ,Eroica‘. Die Zeitgenossen dachten: Jetzt ist ihm ein Fehler unterlaufen, niemand wäre auf die Idee gekommen, dass Beethoven – oder dann eben Strawinsky – das absichtlich so komponiert haben könnten. Die Probleme begannen also schon, bevor sich der Vorhang geöffnet hatte. Man hörte Lachen, zuerst leise, dann immer lauter. Die Jungen, die Diaghilev hinter dem ersten Rang platziert hatte, protestierten gegen den Protest. Daraufhin wurden die Reaktionen noch lauter. Der Zuruf ,Halt's Maul!‘, an den sich Strawinsky später erinnerte, war noch nicht die unhöflichste Aufforderung.“

Wir kommen bei unserem Rundgang in eines der oberen Foyers, in dem das Originalplakat des „Sacre“ von 1913 hängt: Das „Frühlingsopfer“. Gut möglich, dass es auch die Handlung war, die zu unmittelbar und direkt im rosé-goldenen Zuschauerraum aufprallte: Alte, weise Männer schauen, im Kreis sitzend, dem Todestanz eines Mädchens zu, das geopfert werden soll, um den Frühlingsgott freundlich zu stimmen. Eine große heidnische Auferstehungsfeier wird zelebriert, die den Aufbruch – des russischen Eises, das monatelang die Flüsse blockiert, aber auch „metaphorisch“ den Aufbruch in das Licht und den Sommer – symbolisiert.

Mittlerweile sind wir im Stiegenhaus angelangt, Dominique Meyer scherzt mit ein paar Bühnenarbeitern. Auch er hat vor drei Jahren den Aufbruch gewagt – von Paris nach Wien, in die neue Position, in ein Opernhaus, in dessen Graben jeden Tag sein Lieblingsorchester aufspielt. Als die Wiener Philharmoniker das letzte Mal während seiner Pariser Intendantenzeit im Théâtre des Champs Elysées konzertierten, stand Lorin Maazel am Pult. Und das Programm? Dominique Meyer lächelt: „,Le Sacre du Printemps‘...“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.05.2013)

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