Wem gehört 1914?

Nationalistische Parallelaktionen oder gesamteuropäische Chance? 2014 steht das große Gedenken an den Beginn des Ersten Weltkriegs bevor. In Sarajewo geben sich schon seit einiger Zeit die Gedenk-Lobbyisten die Klinke in die Hand.

Wenn er die örtlichen Jugoslawen, die es damals noch gab, beim Fußballspielen ärgern wollte, pflegte ein Mitschüler zu sagen: „Ihr habt's unsern Kaiser umbracht.“ Das war eine kindische und sachlich nicht ganz richtige Aussage über die „Schüsse von Sarajewo“ vom 28. Juni 1914 – aber Alltag im Wien der 1970er-Jahre, das das Wort „Migrationshintergrund“ noch nicht kannte. Das Schulnarrativ für das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand, dem auch dessen Ehefrau Sophie zum Opfer fiel, war: der Terrorakt eines brutalisierten Mittelschülers, der undankbar eine goldene k. u. k. Vergangenheit zerstörte und das Ventil für den Ersten Weltkrieg öffnete.

Aus südslawischer Perspektive indes wurde der 28. Juni 1914 zur Urszene des neuen Staatsgebildes stilisiert, das sich 1918 aus den Trümmern des Habsburgischen und Osmanischen Reiches unter serbischer Federführung formierte. Im offiziellen jugoslawischen Narrativ – dem monarchistischen wie dem sozialistischen – waren die „Schüsse von Sarajewo“ eine Befreiungsaktion, der Todesschütze, Gavrilo Princip, und seine Kameraden von der Gruppe „Mlada Bosna“ waren mythische Helden, ja, Vorläufer Titos und seiner Partisanen. So sprach etwa der jugoslawische Literaturnobelpreisträger Ivo Andrić noch von „unserer Sache von 1914“, die „schrecklich und herrlich und groß“ war.

Seither ist viel Wasser die Donau hinuntergeflossen. Jugoslaw(i)en gibt es nicht mehr. In Sarajewo ereigneten sich von 1992 bis 1995 viel schlimmere Dinge als die Schüsse von 1914: nämlich die längste Belagerung einer Hauptstadt in der modernen Kriegsgeschichte, die rund 10.000 Menschenleben kostete, mehr als 1000 davon Kinder. Die Belagerer waren freilich keine ausländischen Invasoren, sondern serbische Landsleute, die nicht nur töteten, sondern auch plünderten, brandschatzten und vergewaltigten.

Das hat auch dazu geführt, dass es in Bosnien-Herzegowina heute nicht ein, sondern mindestens zwei Gedenken für die „Schüsse von Sarajevo“ gibt: Ist für die einen (nämlich die meisten Bosniaken und viele Kroaten) der österreichische Thronfolger der tragische Held, ist dies für die anderen – hauptsächlich die Serben – nach wie vor der Attentäter. Aber auch die Ansprüche der österreichischen Gesellschaft haben sich geändert. Langsam setzt sich das Bewusstsein durch, dass der Erste Weltkrieg eine Vorstufe und Bedingung für die Menschenvernichtungen des Zweiten war – und die Rolle der Monarchie Österreich-Ungarn dabei nicht so lieb und nett, wie das die Habsburger-Nostalgie suggeriert.

Die Startschüsse für das blutig „kurze 20. Jahrhundert“ (Eric Hobsbawm) sind aber nicht nur Anlass für einen österreichisch-serbisch-bosnischen-und-so-weiter
Gedenktag. Ganz Europa steht gleichsam Schlange in Sarajewo und überschüttet die Stadt mit gewollten und ungewollten Projekten wie schon lange nicht mehr.

Es war eine der letzten Aktionen des französischen Expräsidenten Nicolas Sarkozy, sich des Themas 1914 auf eine nachgerade kulturimperialistische Art zu bemächtigen. Paris stellte rund eine Million Euro für Projekte zur Verfügung und wollte sämtliche Staats- und Regierungschefs nach Sarajewo laden, sogar die Tour de France sollte in der bosnischen Hauptstadt starten. Den Autoren dieses Kommentars, die in Sarajewo eine Tagung zum Thema planten, wurde 2012 beschieden, dass „das die Franzosen ohnehin schon machen“ und sich auch die Fernsehrechte reserviert hätten.

Inzwischen sind die Ambitionen etwas bescheidener geworden, vielleicht auch, weil es in Frankreich eine neue Regierung gibt. Es soll jetzt nur ein kleines Radrennen geben, dafür aber mehrere konkurrierende Historikertagungen, die der Bosnienforscher Robert Donia treffend als „duelling conferences“ bezeichnet. Mittlerweile sind auch andere europäische Partner in die französische Stiftung „Sarajevo – Cœur de l'Europe“ eingestiegen, und man will die Fördergelder fair unter allen wissenschaftlichen und kulturellen Projekten aufteilen. (Genauer betrachtet ist das ziemlich fadenscheinig, denn vom dafür erforderlichen Mindestprojektvolumen von 90.000 Euro können die meisten Projektplaner in Bosnien nur träumen.)

Österreich indes will die Wiener Philharmoniker nach Sarajewo schicken; der Plan jedoch, eine „Versöhnungsmesse“ mit den Familien Habsburg und Princip im Wiener Stephansdom zu feiern, wurde mittlerweile verworfen. Wie verlautet, werden nur die Nachkommen von Franz Ferdinand und Sophie am 28. Juni 2014 mit Kardinal Schönborn eine Messe für ihre Toten im Wallfahrtsort Maria Taferl feiern.

Doch die Aufteilung des ursprünglich überlegten gesamteuropäischen Gedenkens im Juni 2014 in handliche kleine Gedenkparzellen geht noch weiter. So witterte Milorad Dodik, Präsident des semitotalitären serbischen Landesteils in Bosnien-Herzegowina, zusammen mit dem Historiker Slobodan Šoja in den europäischen Plänen eine antiserbische Verschwörung, die nur dazu diene, „einen der größten serbischen Helden“ – Princip – „zu diffamieren“. Auch andere Bosnier formulieren ihre Bedenken: dass nämlich plötzlich all die Akademiker und Politiker aus dem Ausland kämen, um sie zu belehren – und nicht wirklich, um ihnen zuzuhören, sondern schnell wieder aus der eher tristen bosnischen Gegenwart abzureisen.

Man darf also gespannt sein, wie der Geschichtekrimi in Sarajewo weitergeht. Werden die ehemaligen Kriegsparteien wieder in konkurrierenden Erinnerungsprojekten einander gegenüberstehen, eifersüchtig bedacht, den anderen ja keine Minute TV-Sendezeit zu überlassen? Oder macht man endlich aus den Lippenbekenntnissen Ernst, die Gedenkfeiern als eine europäische Chance zu verstehen: dafür nämlich, die ersten Toten von 1914 gemeinsam aus dem Keller der Geschichte zu holen, ihre Geschichte fair und multiperspektivisch zu diskutieren und dann ihr Grab so zu schließen, dass keine weiteren Gespenster austreten können? Ein Abschluss dieses Prozesses, mit den Ereignissen des Ersten Weltkriegs 100 Jahre später endlich ins Reine zu kommen, wäre ein kleines, zumindest symbolisches Erfolgserlebnis für den krisengeschüttelten Kontinent – nicht nur für Bosnien-Herzegowina. ■


Vahidin Preljević lehrt deutschsprachige Literatur und Kulturwissenschaft an der Universität Sarajewo, Clemens Ruthner Germanistik und Europa-Studien am Trinity College in Dublin. Beide planen eine internationale Tagung zum Thema „The Long Shots of Sarajevo“ für 2014.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.07.2013)

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