Wer, wenn nicht du selbst!

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Die Parteien, die Medien, der Markt, die Macht... Wir trauen dem Einzelnen wenig zu. Zu wenig. Das macht uns klein. Zu klein. Entwürfe für eine Welt mit Menschen.

Ganz überraschend sehen wir uns momentan einer Art von Gerechtigkeitsschwemme gegenüber: Man ist daraufgekommen, dass das Verhältnis zwischen den Gehältern von Managern und gewöhnlichen Sterblichen doch nicht so ganz passt, das Verbringen von Geldern aufSchwarzkonten im Ausland wird nun doch erschwert, das Sanieren maroder Banken aufKosten der Steuerzahler und nicht auf Kostender Profiteure ist zumindest dem Grundsatz nach obsolet, und dass Einkünfte aus Finanztransaktionen auch Einkünfte und also zu besteuern sind, hat sich ebenfalls herumgesprochen. Ich will das nicht kleinreden. All diese Manöver, so punktuell und gewissermaßen nur klimatisch bedeutsam sie seinmögen – vor drei, vier Jahren wären sie kaum mehrheitsfähig gewesen.

Wie ist diese Wende nur zustande gekommen? Der Begriff „Wutbürger“ gibt undeutlich die Richtung vor. Unbestreitbar,dass sich in der Bevölkerung, den Bevölkerungen Europas, trotz eines grosso modo nie gesehenen, geradezu unwahrscheinlichen Wohllebens, ein mächtiger Groll aufgebaut hat, durchzogen von Angst, Neid, Unwissen und Ressentiment. Zu Artikulationen dieser Wut, dieses Widerwillens in Form von Demonstrationen oder Ähnlichem ist es auffälligerweise nur randweise gekommen. Der Leidensdruck ist offenbar – noch – nicht groß genug. Man hat den Eindruck, dass das politische Establishment nachsorglich die Lage halbwegs stabilisiert hat, einerseits, weil dieser Zorn da war,andererseits, weil die budgetäre Schieflage in vielen Ländern ein Sich-Umschauen nach neuen Geldquellen angeraten erscheinen ließ. Moral und Pragmatismus sind hier eine jener Ehen eingegangen, denen man mitRecht, die Grundlage des Bundes ist einfach zu diffus, nur eine kurze Laufzeit voraussagen kann.

Halten wir fest, dass demokratisch verfasstes staatliches Leben sich nicht über das an sich so erfreuliche Aufzeigen der Basis organisieren lässt, dass NGOs zwar etwas Großartiges sind, aber zur Aufrechterhaltung dessen, was man Staat nennt, instrumentell einfach nicht taugen. Traditionell kommt die Organisation der Meinungen im politischen Prozess den Parteien zu. Die oben angesprochenen Manöver zeigen uns deutlich, wozu die bestehenden Parteien fähig sind und wozu nicht. Reaktives Handeln ja, Vorgabe von Bauplänen oder Utopien nein. Die bestehenden Parteien sind momentan schlicht nicht in der Lage, ein Bild vorzugeben, auf dessen Verwirklichung gemeinschaftlich hingearbeitet werden soll. Man könnte eher zur Überzeugung kommen, dass sie aus Machtinstinkt gerade so viel an Reformen einleiten und so oder so durchführen, wie eben zum Machterhalt unbedingt nötig ist. Kein Wunder, dass gerade jetzt neue Parteien entstehen, ein Wandel, den man begrüßen kann, wenn auch mit der Einschränkung, dass viele dieser Neubewerbungen entweder auf einer bloßen So-nicht-Haltung gründen oder sich in populistischem Schmus ergehen. – Frage: Ist eine Re-Ideologisierung der überkommenen Parteien, hie christlich-konservativ, dort sozialdemokratisch-sozialistisch, a) denkbar und b) überhaupt wünschenswert?

Es liegt auf der Hand, dass das Erarbeiten neuer Zielbilder bei bestehendem Potenzial allerdingskaum vorstellbar ist. DieGrünbewegung lasse ich fürs Erste außer Acht: Am hiesigen Beispiel lässt sich gut ablesen, dass wir, einmal abgesehen vom grünen Grundanliegen, was den Schutz der Umwelt angeht, ein höchst heterogenes Arrangement vor uns haben, in dem sich konservative mit liberalen mit sozialen Anliegen munter mischen. Eine konsistente grüne Politik, die alle Felder gleichmäßig abdeckt, ist bei solcher Voraussetzung kaum denkbar.

Um ein Beispiel aus anderer Sphäre herbeizuzitieren: Ist es vorstellbar, dass es Papst Franziskus gelingen kann, seine Kirche zu reformieren, was heißt, sie institutionell, vor allem aber auch ideologisch auf neue Grundlagen zu stellen? Was wir bisher sehen, ist eine Politik der Symbole, verbunden mit zaghaften Ansätzen zu institutioneller Reform. Begleitet wird die Bewegung von meist sympathisierenden Medien.

Ein Vorteil springt gleich ins Auge: die Machtfülle des Papstes, von der Parteipolitiker und -führer im Normalfall höchstens träumen können. Zu erwarten ist andererseits, dass die Profiteure der alten Strukturen, wie auch nicht und wie üblich, wohl alles daransetzen werden, die Reform zu verhindern, zumindest aber zu verwässern.

Nehmen wir an, es könnte dem Papst gelingen, sein Haus seinen Zielvorgaben gemäß neu zu ordnen. Nehmen wir an, es könnte ihm gelingen, seine Kirche auf den Kurs der „Gerechtigkeit“ und „Liebe“ – das ist es ja, was ihm vorschwebt – zu bringen. Wir sehen gleich: Würden auch gewisse Erneuerungseffekte von einer neu aufgestellten Führung ausgehen, wäre deren Wirkung ohne das Mitspielen der Medien doch eher beschränkt (unter Medien verstehe ich selbstverständlich auch das Internet).

Wir halten fest, dass idealiter zwar der Einzelne, der einzelne Mensch, das Movens aller Geschichtlichkeit ist und bleibt. In der Massendemokratie modernen Typs sind es jedoch die Medien, die den sogenannten großen Themen den notwendigen Raum schaffen, die die Debatte am Laufen halten. Das Drohbild von durch die Interessen mächtiger Gruppen gelenkter oder gleichgeschalteter Medien, immer wieder werden wir daraufhingewiesen: Es ist nicht nur ein Bild.

Die Ausgangslage, der wir uns gegenübersehen, ist also ziemlich komplex: Die Erneuerung der Parteien, insbesondere auch die Gründung neuer, ernst zu nehmenderParteien, wäre nur ein erster Schritt, ein zwar wichtiger Schritt, auf dem Weg. Die Begleitung solcher Erneuerung durch die Medien, und zwar Medien, die wir beherrschen, wäre absolut notwendig. Die Medien wirken als gesellschaftlicher Transformer, über sie reguliert sich das Zusammenspiel zwischen den Einzelnen, den Gruppen und der Gesellschaft. Deshalb müssen wir stets ein Auge, besser zwei Augen auf sie haben. Ursprung und Ausgangspunkt aller Bewegung bleibt doch immer der Einzelne. – Noch einmal. Die Parteien gleichsam als Tugend- und Innovationsagenturen. Die Medien als Promulgatoren und Verstärker. Der Einzelne als „Anstoßer“ und dann wieder Mitspieler im von ihm angestoßenen Prozess.

Wir werden sehr klein, wenn wir so denken. Zwar sind wir als Demokraten gewohnt, dem Einzelnen eine zentrale Rolle im gesellschaftlichen Prozess einzuräumen, genauer gesagt, sie für ihn zu dekretieren. Tatsächlich beschleichen uns sofort Zweifel, stellen wir den Einzelnen ins Zentrum: Wie, bitte, soll das denn funktionieren? Wir trauen dem Einzelnen wenig zu. Das ist leider wahr. Gewohnt, uns gedankenlos im Großen und Ganzen aufgehoben zu finden, es für seine Schwächen und Fehler zu kritisieren, es bei Gelegenheit herunterzumachen, ist es uns doch Selbstverständlichkeit, uns damit zu identifizieren. Gerade das aber dürfen wir nicht. Wir müssen als Einzelne heraustreten. Es hilft nichts: Weder die Parteien noch die, scheint's, allmächtigen Medien können uns das abnehmen. Und darin, in jedem Einzelnen von uns mit seinen Möglichkeiten, liegt doch auch Hoffnung.


Das Kapitalismus genannte ökonomische System ist ein Stück Natur in der Kultur, ist ein Stück zugelassener Evolution in einer im Übrigen ganz anders konzipierten menschlichen Gemeinschaft. Sprechen wir von der schöpferischen Zerstörung, für den kapitalistischen Wirtschaftsprozess typisch, ist damit nichts anderes gemeint als das allgemeine Lebensprinzip, wie es von Darwin definiert wird, angewendet auf das Gebiet der Ökonomie. Das Neue und besser Realitätstaugliche unterminiert und zerstört ständig das Alte und schlechter Funktionierende. Der neue Gedanke bringt den zuvor gefassten ins Wanken, die neue Mode lässt die alte überholt aussehen, das durchgreifendere Prinzip weist das beschränktere in seine Schranken. Kapitalismus, das ist ein ständiges Wetten auf ein besseres, ein schöneres Morgen. Gegenwart ist bloß Aus- und Durchgangslage für stets neue Unternehmungen und sogenannten Fortschritt, pekuniärer Erfolg das wichtigste, oft einzige Kriterium.

Was aber andererseits zu Buche schlägt, wir wollen es nicht vergessen, ist doch der Umstand, dass alle gesellschaftliche Bewegung in den vergangenen 200 Jahren im Wesentlichen versucht hat, die Ideen der Französischen Revolution umzusetzen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! (Letzteres würde man heute vielleicht Solidarität nennen.)Der von den Prinzipien der Französischen Revolution vorgegebene Weg, der Weg der Emanzipation und De-Hierarchisierung, ist, wie man leicht sehen kann, unumkehrbar geworden, die Menschheit insgesamt, wenige Ausnahmen zugegeben, ist auf ihn eingeschwenkt.

Ob diese Ideen ohne jede Einschränkungimmer richtig und für unsere Art bekömmlich sind? Eine ketzerische, eine unerhörte Frage. Fest steht so viel: Die Macht der Idee liegt ja nicht in ihrer unbedingten Richtigkeit, sie liegt in der möglichen Konsequenz, in unendlicher Ausfaltbarkeit. Haben wir, um ein Beispiel zu geben, erst die Frauen ihre Rechte erkämpfen sehen, sind die Kinder gefolgt: Kinder haben jetzt Rechte, und es ist abzusehen, dass das Prinzip der Verrechtlichung sichauf Tiere, auf die gesamte Natur ausdehnen wird.

Exkurs: Fragen wir uns nach dem Wesen der Welt,lautet unsere, im Übrigen eine aus ferner Zeit überlieferte Antwort: Das Wesen der Welt liegt nicht allein in ihrer Substanz, sondern insbesondere auch in der Bezüglichkeit aller Teile. Jene, die bloß die Substanz der Welt sehen, das Erdöl, die Erze, das Wasser und so fort, und rücksichtslos auf sie zugreifen, zerstören damit die Bezüglichkeiten und damit die Welt. Zudem haben wir die Maßstäblichkeit zwischen uns und der Welt zu beachten – wer sind wir denn schon? Dass etwa aller Materie Empfindungen beizumessen sind, ist mittlerweile fast schon wissenschaftliches Credo.

Orientieren wir uns einerseits an der sogenannten Natur, was das Konkurrenzprinzip angeht, sollten wir uns andererseits das Prinzip der Kooperation, das ebendort auch herrscht, verstärkt zu Gemüte führen. Wie die Bäume mit ihrem Schatten die Voraussetzung für das Biotop des Waldes bieten, wie die Meere mit ihrem kalten, kühlen oder warmen Wasser die Grundlage für ein vielfältig differenziertes Leben sind, wie Bienen und Blüten im Zusammenwirken die Früchte hervorbringen – das nenne ich Bezüglichkeit, das nenne ich im Ergebnis Zusammenwirken, Kooperation. So einfach liegen die Dinge; aber werden sie beachtet?


Ich bin, weiß Gott, kein Freund des Marktes. Was soll aber die Alternative sein? Planwirtschaft, zumindest was ich davon gesehen habe, und ich habe nicht wenig davon gesehen, kann nicht die Lösung sein. Ein Stück weg vom Markt rücken, wie man jetzt öfter hören kann, klingt putzig, aber wie, bitte, soll das funktionieren? – Freilich, man muss den Markt regulieren. Die weit aufgegangene Lohnschere ist zuschließen, die komplettasymmetrisch gewordene Vermögensverteilung ist zu justieren, die Arbeitslosigkeit einzudämmen.Was wir uns aber in Sonderheit und grundlegender überlegen müssen:Welche Gesellschaft wollen wir denn? Welche und wie viel Freiheit wollen wir verlangen? Was kommt dem Einzelnen zu, was der Gemeinschaft? Kann es genügen, da und dort ein bisschen herumzudoktern? Kann man die Möglichkeit, unter verschiedenen Waren zu wählen, etwa auch schon Freiheit nennen?

Die meisten der bislang gemachten Vorschläge zielen darauf ab, die schlimmsten Auswüchse des Marktes abzustellen, das Konkurrenzdenken als zentralen Antriebsmotor aber zu erhalten. Der Wettbewerb soll nicht abgeschafft, er soll bloß auf neue und, wenn möglich, sozial verträglichere Grundlagen gestellt werden. Das Spiel bleibt gleich,die Arena und die Regeln ändern sich.

Schumpeter meint, der Kapitalismus sei ein wenig liebenswertes System. Was aber nicht geliebt werde, erledige sich auf lange Sicht von selbst. Katastrophentheoretiker warten auf den Tag X, den Tag, an dem alles von selbst in Scherben fallen wird: Dann wird alles und, eleganterweise ohne irgendein Zutun unsererseits, anders werden. Wollen wir so lange warten? Wir sollten uns ein wenig umtun.


Vor allem ist es der fundamentale Begriff
des „Eigentums“ selbst, der sich zur Überprüfung anbietet. Wie wäre es denn, würden wir diesen Begriff selbst ins Zentrum des Nachdenkens rücken? Der Begriff unterliegt seit je einem Wandel: Was wir heute unter Eigentum verstehen, hat etwa mit dem, was das alte Rom oder auch das 19. Jahrhundert darunter verstanden haben, wenig zu tun.

Spitzen wir den Begriff „Eigentum“ in Hinsicht auf menschliches Miteinander zu, vertiefen wir die gesellschaftliche Konnotation, kommen wir zum Konzept der „Leihe“: Was einem gehört, ist ihm bloß auf Zeit geliehen. Auf geliehene Dinge passt man für gewöhnlich gut auf. Ein stärker an das Gemeinwohl zurückgebundenes Eigentum, könnte das ein Weg für uns sein? – Eigentum ist nicht Diebstahl, Proudhon hatte nicht recht. Die Leute etwa von der Give-Back-Bewegung haben das besser verstanden: Du bekommstetwas, du gewinnst etwas, du gibst etwas zurück.Nicht Enteignung, nichtEinschränkung der Verfügungsmacht heißt die Agenda. Man könnte ihr dadurch aufhelfen, dassman sagt: So viel hast du bekommen, so viel hastdu damit erwirtschaftet, so viel gibst du an deine Kinder weiter. Das Übrige gibst du zurück. Arbeit bleibt das grundlegende gesellschaftliche Konzept, bloßes Ressentiment verblödet, das sei auch gesagt, Leistung muss sein.

Ich begreife meinen Vorschlag als Teil oder Ergänzung einer metaphysikfreien Ethik, einer Ethik, die sich aus dem Bedürfnis nach Gerechtigkeit, Ausgleich und Frieden herleitet. Wir brauchen die Tüchtigen, die Cleveren, die Einfallsreichen, die Klugen und Findigen, wir brauchen sie sehr – aber über den Tod hinaus? Fällt einem die Rezeptur für ein neues Krebsheilmittel ein, für unendlich konvertibles Material oder, meinetwegen, die „Göttliche Komödie“: Nun, der Mann/die Frau soll doch belohnt sein! Die Erben aber auch?

Eigentum als Leihe, Eigentum als Verantwortung: für die Sache selbst, aber auch für den Nutzen, den sie bringt oder bringen kann. Man wird sich des biblischen Gleichnisses von den Talenten erinnern: Wer hat, dem wird gegeben. Dem wird gegeben – aber eben nur in Verantwortung auf das Größere, das Übergeordnete hin, in unserem Fall die menschliche Gemeinschaft.


Die wahrscheinlich bedeutsamste Frage allerdings, vielleicht die Schicksalsfrage, die uns heute gestellt wird, ist die, wie wir es mit der Natur halten wollen, mit dem, was jetzt immer noch anthropozentrisch „Umwelt“ genannt wird. These: Der Zug zur Stadt, zur Mega-City, für den Moment jedenfalls ist er unumkehrbar, ob uns das gefällt oder nicht. Die Stadt, und die große Stadt dazu, ist ein Energiefresser ersten Ranges, sie braucht die Versorgung über Massengüterfertigung und Großindustrie, sie braucht zum Funktionieren auch einhoch entwickeltes Verkehrs- und Geldwesen. Sagen wir „große Stadt“, „Metropolis“, meinen wir alle diese Dinge schon mit.

Noch nie war die Menschheit so weit entfernt von dem Wunschbild, in geglückter Harmonie mit der Umgebung zu leben, wie eben jetzt. Wir sehen es, noch mehr fühlen wir es – eben deshalb heißt es, kühlen Kopf zu bewahren. Wollen wir unter der Annahme, die nähere und weitere Zukunft werde von urbaner Konzentration bestimmt sein, einen neuen Kurs vorschlagen, bleibt uns nur der Eintritt in tausendfältige Operationen, eine Abfolge von hunderttausend kleinen Schritten, die wir mit Erfindergeist vorbereiten und mithilfe der Technik gehen können, mit ebenjener Technik, die uns die Misere beschert.

Zuzugeben, dass Technik im weitesten Sinn – das Wissen der Fachleute und Spezialisten jeder Abteilung – für uns unabdingbar ist, fällt mir schwer (und wohl nicht nur mir). Weshalb ist das so? Alle Formen der Großorganisation, ob Banken, Industrien oder Energieversorger, haben die Tendenz, sich von der sie umgebenden Gesellschaft, der sie ja dienen sollen, abzugrenzen, eine eigenen Sprache, einen eigenen Jargon, zuletzt auch eigene Regeln zu bilden. Diese Sprachen und Regeln wieder sinken infolge der Bedeutung, die die Versorger für uns haben, bald in die Umgebungen ein. Die Gesinnungen wandern aus, könnte man sagen, dorthin, wo sie nicht hingehören.

Was hier geführt wird, ist ein Kampf um die Deutungshoheit und damit um die Zukunft. Es gibt ein Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Technik, wie es eins gibt zwischen Humanität und Markt. Stellen wir uns die Gesellschaft als Körper vor, in dessen Leiblichkeit sich Organe, lebenswichtige dazu, tendenziell selbstständig gemacht haben und sich in ihre Umgebungen auswachsen. Das kann nicht gutgehen.

Trotzdem brauchen wir, da führt kein Weg vorbei, gerade die Mechanismen und Praktiken, die uns durch ihre Übermacht bedrohen, genau diese Werkzeuge brauchen wir, wenn wir uns eine bessere Zukunft erkämpfen wollen. Allein, wir müssen sie für unsere Bedürfnisse zurechtbiegen. Vor allemdürfen wir nicht glauben, wir könnten als Einzelne so weitermachen wie bisher – die Technik würde die Probleme für uns schon lösen. Nein: Neue Vorgaben müssen her!

Wer soll diesen Plan denn entwerfen, werden Sie fragen, diesen Wandel, die Wende, diese Änderung der Blickrichtung denn bewirken? – Wir selbst! Jeder Einzelne von uns und wir alle miteinander! Tut mir leid: Umdenken müssen wir selbst, wir müssen uns, wie man sagt, ein Herz nehmen: Niemand anderer wird es für uns tun.


What mad pursuit? What struggle to escape?“, heißt es in einem meiner Lieblingsgedichte von Keats. Ein paar Zeilen weiter: „Heard melodies are sweet, but those unheard are sweeter.“

„Welch irres Unternehmen! Und heiß der Wunsch zu entrinnen!“ Wer dächte da nicht an den Zustand der Welt? „Musik zu vernehmen ist schön. Doch jener anderen zu lauschen, die nur der Geist hört, ist schöner noch.“ Solche Musik braucht es. Ohne solche Musik wird es nicht gehen. Unsere Musik heißt Denken. Ihr Zauber besteht einfach darin: Was einmal gedacht ist, gibt es. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.09.2013)

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