Die Spitze und die Breite

Otto Wagner, der Moderne. Carl König, der Konservative. Dazu Camillo Sitte, der Theoretiker des Städtebaus. Was verbindet die drei etwa Gleichaltrigen, die an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert das hiesige Architekturgeschehen maßgeblich bestimmten? Eine Zusammenschau.

Otto Wagner, Carl König, Camillo Sitte. Diese drei etwa gleichaltrigen Wiener Architekten haben im auslaufenden 19. und beginnenden 20.Jahrhundert viel für die Architektur- und Städtebauentwicklung und deren Ausbildung gemacht. Meine Generation hat nach dem Zweiten Weltkrieg beigetragen, die überragende Rolle von Otto Wagner in Erinnerung zu rufen. Der heutige Zeitabstand erlaubt es, auf die gleichzeitige Wirkung von Carl König als bauendem und lehrendem Wiener Architekten und auf Camillo Sitte, den Theoretiker des Städtebaus, in einer Zusammenschau aufmerksam zu machen.

Camillo Sitte ist mit nur einem einzigen realisierten Bauwerk, mit der 1871 bis 1874 erbauten Mechitaristenkirche in Wien-Neubau, in Erscheinung getreten – neben dem Mechitaristenkloster, an dem auch Joseph Kornhäusel baute. Otto Wagners früher Synagogenbau an der Rombach-Utca in Budapest, ein Zentralbau in Eisenkonstruktion, entstand 1868 bis 1871. Carl Königs Synagoge in Wien-Fünfhaus, Turnergasse, entstand 1870 und wurde 1938 von den Nazis zerstört. (Als jüdischer Architekt baute er auch die Synagoge in Reichenberg.)

Bei diesen drei genannten Bauwerken waren die Architekten um die 30 – also am Beginn ihrer Laufbahn. Otto Wagner hatte dann eine enorme Bauproduktion, angefangen mit den Wiener Stadtbahnbauten, endend mit der Postsparkasse und der Kirche am Steinhof. Aber auch Carl König hat, angefangen mit dem im Zweiten Weltkrieg zerstörten Philipp-Hof bei der Albertina, dem Palais Herberstein, Michaelerplatz-Schauflergasse, der Börse für landwirtschaftliche Produkte in der Taborstraße (dem heutigen Odeon), endend mit dem Erweiterungstrakt der Technischen Hochschule an der Karlsgasse und dem Haus der Industrie am Schwarzenbergplatz, das Wiener Stadtbild mitgeprägt. Viele Jahre gingen wir – mehr oder weniger teilnahmslos – an seinen Bauten vorüber.

Carl König leitete mehr als 30 Jahre die Lehrkanzel für Baukunst an der Wiener Technischen Hochschule (damals Polytechnisches Institut). Otto Wagner unterrichtete von 1894 bis 1913 als Nachfolger von Carl Hasenauer an der Wiener Akademie der bildenden Künste. Auch Camillo Sitte lehrte an der Gewerbeschule, zu deren Begründern er zählte; zuerst in Salzburg, dann in Wien. Er hatte sich um die Hasenauer-Nachfolge beworben, ist damals aber Wagner unterlegen.

König orientierte sich an der klassischen Antike und der italienischen Renaissance. Wagner, obwohl klassisch ausgebildet, sprach von einer „Naissance“, von künftigen baulichen und städtebaulichen Möglichkeiten, von weit ausgreifenden, geradlinigen Erweiterungen. Ganz im Gegensatz zu Camillo Sitte, der mit seiner Buchveröffentlichung „Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“, 1889, vorerst in den deutschsprachigen Ländern enormen Zuspruch vermerken konnte. Er kritisierte die großen offenen Räume der Wiener Ringstraße, stellte selbst angefertigte Illustrationen von Stadtplätzen aus Österreich, Deutschland, Italien und Frankreich zum Vorbild.

Für die Ringstraßenbauten zu spät

Alle drei Architekten sind für bedeutende Ringstraßenbauten zu spät gekommen. Die Generation der bauenden „Ringstraßenbarone“ hatte ihnen schon alles weggebaut. An der Wiener Akademie wurde man durch ein Auswahlverfahren zugelassen. Nach positiver Bewerbung wurde man aufgenommen. So wurde jahrgangsweise nur eine Handvoll junger Anwärter ausgebildet. Unter mehreren bekannten Namen gelten Joseph Maria Olbrich, der spätere Erbauer der Wiener Secession, und Josef Hoffmann, der spätere Mitbegründer der Wiener Werkstätte, noch als Wagner-Schüler; dann kamen Jan Kotéra aus der Tschechoslowakei und Joseph Plečnik aus Slowenien, die das Bauen um 1900 bereits mitbestimmten.

Absolventen, vorwiegend aus der Wagner-Schule, waren schließlich bei den großen Leistungen des Wiener sozialen Wohnungsbaues nach dem Ersten Weltkrieg tonangebend. Bei Carl König studierte eine Vielzahl von Architekturstudenten aus der ganzen österreichisch-ungarischen Monarchie (auf der Technischen Hochschule gab es keine Aufnahmebeschränkung). Es ist deshalb zu beachten, dass in allen diesen Ländern das bauliche Geschehen vorwiegend von da her beeinflusst wurde.

Von Wagner-Schülern kamen Spitzenleistungen. König-Schüler deckten das große, breite Baugeschehen ab. Wagner stellte sich als der Moderne, König als der Konservative heraus. Ein wichtiger Verbindungsmann zwischen König und Wagner scheint Max Fabiani gewesen zu sein. Er war Assistent bei Carl König, später Chefarchitekt im Atelier von Otto Wagner. Er hatte bei der Formulierung von Wagners Schrift „Moderne Architektur“ mitgeholfen. Fabiani – so scheint es – war Vermittler zwischen den Modernen und den Konservativen. Übrigens soll Fabiani dem Amerika-Rückkehrer Adolf Loos 1899 zu dessen erstem Auftrag, dem Café Museum, verholfen haben.

Fabiani baute 1899 das wunderbare Geschäftshaus Portois & Fix in der Ungargasse und 1900 das Haus Artaria am Kohlmarkt. Wagner soll im ersten Aufwallen eines Neubeginns seine historische Architekturbibliothek weggeschmissen haben. Von Carl König wird berichtet, dass er bei der Herausgabe von Albertis „Zehn Büchern über Baukunst“ geholfen habe. Auch Vitruvs „Zehn Bücher über Architektur“ oder Jakob Burckhardts „Geschichte der Renaissance in Italien“ standen in der König-Schule hoch im Kurs. So ist es nicht verwunderlich, dass Josef Frank (1885 bis 1967) seine Dissertation „Über die ursprüngliche Gestalt der kirchlichen Bauten des Leon Battista Alberti“ verfasste. Die bekannten TH-Absolventen Oskar Strnad, Josef Frank und Oskar Wlach kann man als König-Schüler bezeichnen. Sie traten ab etwa 1910 mit eigenen Bauten hervor. Sie hatten zwar nicht die Prägung der fortschrittlichen Wagner-Schule erfahren, waren aber (wie Adolf Loos) Vertreter einer „anderen“ Moderne.

Strnad und Frank wurden als Lehrer an der Wiener Kunstgewerbeschule befruchtend. Loos unterhielt unter dem Deckmantel von Eugenie Schwarzwalds Schule eine eigene „Bauschule“. Studenten kamen auch von der Technischen Hochschule (zum Beispiel Richard Neutra) oder gingen von dort in die Wagner-Schule (zum Beispiel Rudolph Schindler). Camillo Sitte, der schon 60-jährig, am 16.November 1903, also vor 110 Jahren, starb, erhielt über seine publizistische Tätigkeit große Aufmerksamkeit. Etwa war Charles-Edouard Jeanneret, der spätere Le Corbusier, von Sittes städtebaulichen Ideen in seiner Anfangszeit sehr angetan. Später hat er davon abgelassen und vertrat rigoros eigene Konzepte.

Sitte kritisierte die schnurgeraden Häuserfluchten, die würfelförmigen Baublöcke, insgesamt die Nüchternheit moderner Stadtanlagen, man müsse – wie der Untertitel seines Buches heißt – künstlerische Ziele im Auge haben. Sittes Buch „Städte-Bau“ gliedert sich in zwölf Punkte; für den letzten Punkt, Beispiel einer Stadtregulierung nach künstlerischen Grundsätzen, dient ihm die Wiener Ringstraße als Beispiel. So will er der Votivkirche einen Vorraum, ein Atrium schaffen; den Freiraum zwischen Universität, Rathaus, Burgtheater, Parlament baulich fassen; dem Zwickelplatz beim Justizpalast (Schmerlingplatz) mit einem noch unbestimmten Neubau im Ringstraßenknick ein Gelenk geben; den neuen (nie gebauten) Hofburgtrakt einbinden.

Zugleich wären diese Vorschläge geeignet gewesen, die stilistischen Unterschiede der repräsentativen Ringstraßenbauten von Neugotik (Votivkirche, Rathaus), Neugriechisch (Parlament), Neurenaissance (Universität, Burgtheater) zu überwinden.

Nähern wir uns dem theoretischen Konzept der Architekturausbildung von Carl König, so können wir seine am 26.Oktober 1901 gehaltene Rektoratsrede, „Die Wissenschaft von der Architektur und ihre praktische Bedeutung“, heranziehen. Vor allem seien es zwei große Vorgänger, die sowohl praktisch als auch theoretisch als Baukünstler hervorgetreten sind: Eugène Viollet-le-Duc, der als Anhänger der Gotik auf dem Boden der mittelalterlichen Baukunst wurzelte, und Gottfried Semper, durch die Planung des Kaiserforums in Wien kein Unbekannter, der im theoretischen Bereich durch sein umfangreiches Werk „Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten“ maßgebend wurde.

Vertrautheit mit der Geschichte

Obwohl König feststellt, dass man sich schärfere Gegensätze als jene der beiden Genannten kaum denken kann, fehle es nicht an Berührungspunkten zwischen ihren Lehren. In seiner Rektoratsrede greift König weit aus bis zu den Anfängen der Architektur in allen Ländern, denn „für den Architekten ist die Vertrautheit mit der geschichtlichen Entwicklung seiner Kunst ein unentbehrlicher Teil dieses Fundamentes“. Trotzdem schließt König seine Rede mit dem Bekenntnis: „Nichts ist uns so nahe verwandt wie die Baukunst der Renaissance.“ Seine Bauten unterstreichen diese Hinwendung.

Nähern wir uns der Theorie von Otto Wagner, so müssen wir seine Antrittsvorlesung von 1894 und seine programmatische Schrift „Moderne Architektur“ von 1896 heranziehen. Auch Wagner hebt auf Semper ab, auf den „unsterblichen Entwurf“ des Kaiserforums, auf dessen enormes Wissen; kritisiert aber, dass Semper „wie Darwin“ nicht den Mut hatte, seine Theorien zu vollenden und sich mit der Symbolik der Konstruktion behalf, statt die Konstruktion als die Urzelle der Baukunst zu bezeichnen.

Wagners Feststellung, der „Architekt habe immer aus der Konstruktion die Kunstform zu entwickeln, die Konstruktion gehe immer voran, neue Konstruktionen müssen neue Formen gebären“, war ihm eisernes Gesetz. Otto Wagner machte mit 70 durch seine Schrift „Die Großstadt“ noch einen weiteren Schritt auf dem Gebiet des Städtebaues, der von Camillo Sitte mit Sicherheit abgelehnt worden wäre. Um 1910 hatte sich die fortschrittliche Wiener Architektur der Jahrhundertwende erschöpft. Eine Änderung der Architekturauffassung zeichnete sich ab. Solche Schwankungen wird es immer wieder geben. Auch in unserer Zeit: Der Moderne folgte die Postmoderne.

Carl König starb am 27.April 1915. Als Letzter der drei starb Otto Wagner am 11.April 1918 in einem der beiden 1909 bis 1911 erbauten großartigen Miethäuser Döblergasse-Neustiftgasse.

Mein Fazit: Die Architekturentwicklung wird immer von mehreren Seiten und den besten Köpfen beeinflusst. Erst der Zeitabstand macht es möglich, diese oft gegensätzlichen Kräfte zu bündeln. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.11.2013)

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