„Ich erhoffe nichts mehr“

Über verwinkelte Stiegenhäuser bringt uns Aisha in die Wohnung ihrer Eltern. Der ältere Bruder wurde erschossen; der Vater sitzt ohne Rechtsbeistand in Haft; die jüngere Schwester ist untergetaucht. Kairo am Rand des Bürgerkriegs: Szenen des ägyptischen Dramas.

Anfang Jänner 2014. Auf al-Jazeera, BBC und CNN laufen trostlose Bilder aus Alexandria, Ismaillya, Kairo: aufgebrachte Demonstranten, Tränengas, brennende Autos, schießende Polizisten, Tote, Verletzte. Der gespaltenen Nation am Nil drohen nach Militärcoup, Entmachtung und Dämonisierung der Muslimbrüder bürgerkriegsähnliche Zustände. Nachdem am vorletzten Tag des vergangenen Jahres Selbstmordattentäter im Stile von al-Qaida zwei Dutzend Sicherheitskräfte in den Tod gerissen hatten, erklärte ein vom Obersten Militärrat kontrolliertes Gericht ohne Beweismittel die bereits verbotene Muslimbruderschaft zur Terrororganisation. Ein folgenreicher Akt: Er kriminalisiert einen beträchtlichen Teil der ägyptischen Bevölkerung, da bei den bislang letzten legalen Wahlen im Juni 2012 mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten für den Kandidaten der Bruderschaft votiert hat. Wer sich fortan im Land zu ihr bekennt, gar für sie demonstriert, riskiert hohe Gefängnisstrafen oder mehr.

Vergangenen Mittwoch – es ist der erste Tag im Politprozess gegen den im Juli 2013 gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi, die Verhandlung wird auf 1. Februar vertagt –erreicht mich eine SMS: „MM ist unser legitim gewählter Präsident. Er und unsere Millionen Stimmen werden geopfert. Wir wollen Gerechtigkeit, auch wenn sie uns dafür erschießen.“ Die 23-jährige Absenderin nenne ich hier Aisha: „Meinen Namen trage ich zur raschen Identifizierung im Todesfall als Armband. Danke für die guten Wünsche. Ich erhoffe nichts mehr.“ Illusionslos und unerschrocken, einer nationalen Traueranzeige gleich, klingt diese Nachricht aus Kairo.

Als am legendären Platz der Freiheit, am Tahrir, Ende Jänner 2011 Zehntausende – Muslime, Kopten, Säkulare – friedlich, aber unerschrocken begannen, ihren korrupten Despoten aus dem Amt zu jagen, schien mitten im Winter ein „arabischer Frühling“ anzubrechen. Von Revolution war die Rede. Im Jahrzehnte autokratisch regierten islamischenKernland begann – wie zuvor in Tunesien und kurz danach in Libyen, Syrien, im Jemen, in Bahrein – die Zivilgesellschaft, von Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit zu träumen. Aisha, ihre beiden Geschwister, die den Muslimbrüdern verbundenen Eltern sprachen Dankgebete, fuhren feiernd an die Küste, streuten Freudenblumen ins Mittelmeer, fotografierten sich fröhlich. Sie hofften auf einen integren, moderat islamischen Staat mit einer Verfassung, die ihre muslimischen Werte mit denen einer fortschrittlichen Demokratie vereinigen würde. Aisha erzählt: „Meine Familie war wie Millionen unserer Landsleute nach der Vertreibung Mubaraks davon überzeugt, dass durch gemeinsames soziales Engagement ein gerechteres Leben für alle möglich ist. Dass die neue Politik den Forderungen vom Tahrir, ,Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit‘, nachkommen würde.“

Der Vater, ein anerkannter Arzt, blieb im Freudentaumel indes Realist. Er warnte vor den Militärs. Für sie, die mächtigen Günstlinge, stand viel auf dem Spiel: Vetorecht bei höchsten politischen Entscheidungen; Immunität bei Korruptionsverfahren; ein vom nationalen Budget unabhängiger milliardenschwerer Militäretat; Steuerbefreiung für enormen Landbesitz sowie Firmenimperien, die mit den Langzeitrekruten ein Heer von Gratisarbeitskräften befehligten.

13. September 2013. Es ist ein denkwürdiger Freitag in Nasr City, einem politisch neuralgischen Vorort Kairos.Hier liegen Polizei- undMilitäreinrichtungen in direkter Nachbarschaft zuHochburgen der Muslimbruderschaft; hier stürmte vor vier Wochen die Armee mit Apache-Helikoptern und schweren Geschützen die nach dem Sturz Mohammed Mursis formierten Widerstandslager der Muslimbrüder. In der Rabaa-al-Adaweya-Moschee und an anderen Orten starben 1011 Zivilisten sowie 52 Sicherheitskräfte, Hunderte wurden verwundet, traumatisiert. Die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei (FJP) der Muslimbrüder wurde verboten, ihre Güter wurden konfisziert, ihre Führer und Tausende Anhänger inhaftiert.

Rabaa ist fortan das Synonym des nationalen Sündenfalls. Zu Trommelschlägen, Trillerpfeifen, Pfiffen tönt es von allen Seiten: „Rabaa, Rabaa.“ Über Tausenden, vorwiegend weiblichen Köpfen – ihre Männer sind eingesperrt – wogt ein Meer schwarz-gelber Anklage: Trauertransparente mit den vier schwarzen gestreckten Fingern mit eingeklapptem Daumen, Fahnenstafetten mit Konterfeis Erschossener, Kaskaden von Mursi-Plakaten. Dass Demonstrieren verboten ist, spielt offenbar keine Rolle; dass es immer wieder Tote gibt, auch nicht. Die mit Helmen, Schilden, Knüppeln und Pistolen ausgestatteten Sicherheitskräfte in Schwarzblau halten sich noch zurück, sind nur an den Rändern sichtbar.

Ich verwende meine kleine Kamera möglichst unauffällig. Plötzlich nimmt mich eine junge Frau in dunkelbraunem Tschador an der Hand, sagt auf Englisch: „Folge mir. Rasch. Ihr seid im Visier der Geheimpolizei.“ Mein erster Gedanke: Nicht schon wieder. Das Kamerateam und ich waren während dervergangenen fünf Tage schon zweimal verhaftet worden, verbrachten Stunden auf Polizeistationen; wurden der Komplizenschaft mit al-Jazeera – dem medialen Staatsfeind Nummer eins – bezichtigt. Zu viert drängen wir uns durch die Menschenmassen; jemand spritzt uns kühlend Mineralwasser ins Gesicht. Über verwinkelte Stiegenhäuser bringt uns Aisha in die Wohnung ihrer Eltern. Dort, am gutbürgerlich anmutenden Zufluchtsort, eröffnen sich Szenen des ägyptischen Dramas: Der ältere Bruder wurde in Rabaa erschossen; der Vater sitzt ohne Rechtsbeistand in Haft; die jüngere Schwester ist untergetaucht; die Mutter entrollt einen Farbposter, der ihre nunmehr zerrissene Familie im Sommer 2011 fröhlich vereint am Mittelmeerstrand zeigt: „Sehen so Terroristen aus?“Die Tochter entwindet der Mutter besänftigend das Familienbild aus glücklichen Tagen, küsst ihr dabei die Hände.

Welch destruktive Kräfte verwandelten die Zeit zwischen den drei Sommern in einen Alptraum? Im April 2011 gründeten die Muslimbrüder die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei (FJP) und lancierten sogleich eine Antikorruptionsagenda, die die rechtliche Immunität der Militärs in Sachen Korruptions- und Repressionsverfolgung infrage stellte. Ein Tabubruch, der die milliardenschweren Privilegiengewinne der parasitären Kaste gefährdete. Als die FJP bei den ersten freien Wahlen zur Jahreswende2011/12 fast 40 Prozent aller Stimmen auf sich vereinigte, reagierten die irritierten Militärs prompt: Sie ließen das Votum annullieren und lösten das Parlament auf. Dieser Gegenschlag traf die Muslimbrüder schwer, denn der islamisch-modernistische Flügel der Bruderschaft wollte unter der Ägide von Essam el-Erian auf parlamentarischer Ebene strategische Allianzen schmieden, demokratische Kontrollinstanzen forcieren, den islamischen Charakter der Gesellschaft unter Wahrung der Minderheitenrechte moderat vorantreiben. Eines wollten die Brüder nicht: die direkte Konfrontation mit der Armee.

Auf dem Schreibtisch liegen Fotografien des toten Bruders; sie wölben sich im starken Sonnenlicht. Seine Bücher und Skripten liegen aufgeschlagen da, als wäre er nur für einen Moment weggegangen. Über der Lehne des Ledersofas hängt ein Arztmantel. Zum inhaftierten Vater, einem Freund und Studienkollegen von Essam el-Erian, gibt es keinen Kontakt. Das Bankkonto ist gesperrt, das Telefon überwacht.

Aisha gießt süßen Minztee in fein ziselierte Gläser. Die Mutter, eine Philologin mit guten Englischkenntnissen, reicht Datteln mit Marzipan, sieht uns verweint in die Augen. Nach einer Weile sagt sie: „An diesem Tisch hat die Familie mit Essam manche Gespräche geführt. Wir waren alarmiert von den Schikanen des Militärrates. Essam war überzeugt, dass in der neuen Machtkonstellation das Präsidentenamt zugunsten der Militärs geschwächt sein würde und daher die Bruderschaft keinen eigenen Kandidaten ins Rennen schicken sollte. Er setzte trotz aller Probleme weiter auf die parlamentarische Demokratie.“

Von draußen hallt rhythmisches Skandieren in die bedrückte Atmosphäre. „Mursi, Mursi, unser Präsident! Das Amt ist dein! Nieder mit al-Sisi! Mörder, Mörder!“ Die Trauermenge schreit die Namen der beiden seit Sommer 2012 verstrickten Schicksalsfiguren in den Freitaghimmel: Mohammed Mursi und Abdel Fattah al-Sisi – der eine heillos überfordert in das abgewertete Präsidentenamt geschickt, weil die Kontrahenten mit finsterer Bravour seine Muslimbrüder in ein auswegloses Dilemma manövriert hatten; der andere von ebenjenem neuen Präsidenten zum vermeintlich gewogenen Oberbefehlshaber der ägyptischen Streitkräfte berufen, weil er als gläubiger Patriot zur rechten Zeit gegen die Vetternwirtschaft des Mubarak-Clans aufgetreten war. Im Sommer 2013 erklärt der General den Präsidenten für abgesetzt. Sechs Wochen später gibt al-Sisi den Schießbefehl für Rabaa und parallel laufend die Liquidierungsorder der Muslimbruderschaft. So sehen es zumindest die Niedergedrückten an diesem Tisch.

Aisha wiegt mit beiden Händen ihren Kopf. Die Mutter hat sich nach der Tochter zum Gebet zurückgezogen. Während die Chöre der Straße noch aus der Ferne hallen, hebt die junge Frau ihren Blick, sagt: „In meine Trauer mischt sich auch das bittere Gefühl des Verrats. Wie kann es sein, dass einstige Mitstreiter vom Tahrir, ob Kopten oder Salafisten, jetzt mit den Militärs gegen uns gemeinsame Sache machen?“ Das Mobiltelefon des einheimischen Kameramanns läutet: Es hat einen Anschlag auf eine Polizeistation gegeben, Näheres wisse man noch nicht. Nur: Die Sicherheitskräfte lösen jetzt gewaltsam die verbotenen Freitag-Demonstrationen in Nasr City, Shubra, Muqattam auf. Wir sollten uns schleunigst in Sicherheit bringen. Beim Abschied flüstert Aisha: „Freunde meiner Schwester sagen, die Mörder unserer Märtyrer werden enden wie Sadat. Ich sage: Sie wissen nicht, wie sehr al- Qaida darauf wartet, in die Reihen unserer verzweifelten jungen Brüder einzudringen.“

8. Jänner 2014. Al-Jazeera appelliert an die ägyptischen Behörden, ihre seit elf Tagen festgehaltene TV-Crew sofort freizulassen. Es sind namhafte Kollegen: Peter Greste, ein preisgekrönter früherer BBC-Afrika-Korrespondent, Mohammed Fahmy, Chefproducer, der auch für CNN, die „New York Times“ und für das Internationale Rote Kreuz arbeitete, sowie der lokale Stringer Baher Mohammed. Ihnen wird vorgeworfen, pro Muslimbrüder und somit gegen Interessen der Staatssicherheit berichtet zu haben. Bisher haben internationale Proteste gegen diesen Willkürakt nichts gefruchtet.

Unterdessen gehen die nun als Terrorakt bezeichneten, kleiner gewordenen Proteste der Mursi-Anhänger in Nasr City weiter, wo der gestürzte Präsident, der gleichfalls verhaftete Essam el-Erian sowie weitere 13 führende Muslimbrüder einem Militärgericht vorgeführt werden sollen. Ihnen werden terroristische Akte, Anstiftung zum mehrfachen Mord sowie Betrug vorgeworfen. Bei einem Schuldspruch droht die Todesstrafe.

Nächste Woche soll in dieser fragilen, von den Sicherheitskräften kontrollierten Atmosphäre ein dem Militärrat genehmes Verfassungsreferendum durchgeführt werden. Die Muslimbrüder kommen darin nicht mehr vor. Dafür könnte der nächste Akt im ägyptischen Drama in der wiedererrichteten „Republik der Offiziere“ spielen, deren Präsident General Abdel Fattah al-Sisi heißt. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.01.2014)

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