Ein „kurzes Stückl“ über Österreich

1957 für die „Presse“ gedacht: zur Geschichte eines Bernhard-Typoskripts.

Am 21. Oktober 1957 sandte Thomas Bernhard als Beilage zu einem Brief an Gerhard Fritsch ein „kurzes Stückl“ (Wienbibliothek, Nachlass Gerhard Fritsch: 4.20.18.; Thomas-Bernhard-Archiv NLTB; SL 14.13: ein siebenseitiges Typoskript mit einigen handschriftlichen Korrekturen von der Hand des Autors), eine Könnensprobe aus einem nicht eruierbaren „Zyklus von ,Essays‘“. Bernhard verband damit die Hoffnung − „ich brauche so notwendig ein paar Kreuzer“ −, Fritsch könne den „Brief aus einem Drama“ in den von ihm herausgegebenen „Wiener Bücherbriefen“, wie andere Beiträge zuvor, abdrucken. Gleichzeitig glaubte er, der Freund verfüge über hinreichende Beziehungen zur „Presse“, um dort einen weiteren Abdruck mit entsprechendem Honorar zu ermöglichen.

Eine Veröffentlichung scheiterte in beiden Fällen, die Ursachen dafür sind nicht geklärt. Warum Bernhard die „Presse“ für eine Veröffentlichung vorgesehen hatte, erschließt sich aus dem Text: Das unvermittelte Auftauchen des lateinischen „Spectrum Austriae“ verweist auf den Titel des 1957 im Herder Verlag Wien erschienen und von Otto Schulmeister unter Mitwirkung von Johann Christoph Allmayer-Beck und Adam Wandruszka herausgegebenen Buches. Otto Schulmeister war seit 1946 Redakteur der „Presse“, zwischen 1961 und 1976 Chefredakteur und von 1976 bis 1989 Herausgeber der Zeitung.

Das spezifisch „Österreichische“

Auf mehr als 700 Seiten versammelte der Band, den Abschluss des Staatsvertrags als Zäsur begreifend, 20 Beiträge über Österreich von den Anfängen bis zu aktuellen sozialen, politischen und kulturellen Themen, die sich um die Herausarbeitung des spezifisch „Österreichischen“ mühten. Die argumentative Stoßrichtung: „Legitimität gibt ihm [Österreich] erst die Versöhnung. Mehr noch, das Bündnis mit seiner Geschichte“, so Schulmeister; Gegenwart und Zukunft Österreichs erhalten vor dem und durch den Hintergrund seiner über 1000-jährigen Geschichte eine alt-neue Bedeutung.

Sein Gewicht bezieht der hier erstmals veröffentlichte Beitrag Thomas Bernhards von seiner Frontstelllung − teilweise durch expliziten Bezug auf Formulierungen und Passagen von „Spectrum Austriae“ − gegen den für die Fünfzigerjahre repräsentativen Optimismus; ihm gegenüber überführt der „Brief“ in direkter Ansprache an die Landsleute solche Hoffnungen der Geschichtsverkennung: die „Vielfältigkeit dieses dramaturgisch erstklassigen Dramas“ namens Österreich bedeutet im Ende: Musealisierung. Doch eine letzte Chance besteht: „Dieses natürliche Gebilde aus Poesie und Ökonomie, aus Religion und Aristokratie [Österreich, wie es in „Spectrum Austriae“ ausbuchstabiert wird] ist noch nicht stillschweigend tot, wenn auch die Zeitungsberichterstatter, die Briefträger und die Fabrikationsgehilfen in den großen und kleineren Parlamenten versuchen – verzweifelt versuchen –, ihre verrückte Musik zu machen.“

Dieser ambivalente, zwischen unaufhaltsamem Niedergang und ferner Hoffnung pendelnde Grundton prägt diese erste „tieftraurige“ Auseinandersetzung des 26-jährigen Thomas Bernhard mit seinem weit in die Geschichte ausgreifenden „Herkunftskomplex“ von La Casa d'Austria bis zur Zweiten Republik. ■


Raimund Fellinger, geboren 1951 im Saarland, arbeitet nach Studium von Germanistik, Linguistik und Politikwissenschaft seit 1979 als Lektor im Suhrkamp Verlag, seit 2006 als Cheflektor. War ab Anfang der Achtzigerjahre der Lektor von Thomas Bernhard.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.02.2014)

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