Karl, Karl über alles

Der Kaiser nimmt Paraden ab, der Kaiser im offenen Wagen, der Kaiser an allen Fronten. Und stets dabei: ein Fotograf. Kaiser Karl und die Propa-ganda: wie man aus einem Nobody einen umschwärmten Monarchen macht.

In der Nacht vom 23. auf den 24.März 1919 rollt ein gespenstischer Zug durch Österreich. Die Reisenden sind: Karl, der letzte Kaiser, Zita, seine Frau, ein paar Familienmitglieder der Habsburger, ein britischer Offizier, der die Reise im Auftrag der englischen Regierung geplant hat, und etliche britische Soldaten. Im niederösterreichischen Bahnhof Kopfstetten ist die kaiserliche Familie ein letztes Mal in „ihren“ noblen Hofzug gestiegen. Er wird sie ins schweizerische Exil bringen.

Eine Woche nach der Abreise Karls, ausgerechnet am 1. April 1919, war Wien in Aufregung: Das inzwischen „republikanisch“ gewordene Schloss Schönbrunn wurde für das gemeine Volk geöffnet. Zahlreiche Schaulustige tummelten sich in diesen Tagen in den endlosen Gängen und Fluchten des Schlosses. Die Neugierigen wandelten durch die privaten Räume Karls, Zitas, Franz Josephs und all der anderen Habsburger. Egon Erwin Kisch, der zu dieser Zeit als junger Reporter in Wien lebte, berichtet Anfang April 1919 in der Tageszeitung „Der neue Tag“ über die Schlosstouristen: „Seit dem 1. dieses Monats werden Besucher gegen Eintrittsgebühr von einer Krone über die eisglatten Parketts der Fremden- und Zeremonialappartements geführt, in die große Galerie, in das chinesische Rundkabinett, in das Karussellzimmer, den Zeremoniensaal, den Gobelinsalon und in das Schlafzimmer, wo Exkaiser Karl und Exkaiserin Zita bis zum November genächtigt haben.“ Und er ergänzt süffisant: „Wenn so ein alter Habsburger, zum Exempel Kaiser Franz Joseph, vom Himmel die Bewilligung bekäme, jetzt oder in zwei Monaten sein Schönbrunner Lustschloss zu besichtigen – er würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.“

Ob Kaiser Franz Joseph tatsächlich im Himmel gelandet ist, wir wissen es nicht, Karl hingegen, sein Nachfolger, hat es geschafft: Seit dem 3. Oktober 2004 weilt er unter den Seligen. Dennoch: Der letzte österreichische Kaiser kann es nicht mit der Glorie der 68-jährigen Regierungszeit Franz Josephs aufnehmen. Und auch heute, 91 Jahre nach dem Tod des alten Kaisers (1916) und 88 Jahre nach dem Sturz des jungen (1919), steht Karl immer noch im Schatten Franz Josephs. Ich gehe jede Wette ein, dass von den 1,9 Millionen Besuchern, die im vergangenen Jahr durch die Räume des Schlosses Schönbrunn geschleust wurden, die Mehrzahl Franz Joseph für den letzten österreichischen Monarchen hält und nicht Karl, seinen glücklosen Nachfolger.

Karl wird gern als ziemlich blutleere historische Figur gezeichnet. Er habe, so heißt es, angesichts des Krieges, den er geerbt hatte, eine eher hilflose Rolle in der jüngeren österreichischen Geschichte gespielt. Stimmt denn dieses Bild? War Karl tatsächlich der etwas überforderte junge Herr, der mitten im Krieg ein Kaisererbe antrat, dem er nicht recht gewachsen war?

Eher durch Zufall bin ich auf eine Spur gestoßen, die diesem Bild zu widersprechen scheint. In der umfangreichen Sammlung an Kriegsfotografien, die im Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrt werden, findet sich eine ganze Reihe wunderbar erhaltener Glasplattennegative, die den letzten österreichischen Kaiser zeigen. Sie stammen vom Leibfotografen Karls und wurden in den letzten beiden Jahren der Monarchie aufgenommen. Jede dieser Platten misst 13 mal 18 Zentimeter und ist sorgfältig beschriftet: Auf der einen Längsseite findet sich die Inventarnummer, dahinter der Bildtitel, etwa: „Frontreise Sr. M.“, also „Seiner Majestät“, auf der anderen Längsseite hat der Fotograf in schwungvollerHandschrift seinen Namen (Schuhmann) und das Datum hinterlassen. Das Thema der Sammlung lässt sich auf einen einfachen Nenner bringen: Karl, Karl, Karl. Als ich die Bilder eines nach dem anderen durchging, war ich zunächst überrascht. Da fand sich keine Spur vom schwächlichen Jüngling. Da war keine Rede vom kriegsmüden Monarchen, der nichts sehnlicher als den Frieden wünschte. In den Bildern trat mir ein überaus energischer, kraftvoller Monarch entgegen, der euphorisch von Front zu Front zieht. Immer und immer wieder lässt er sich als siegreichen Feldherrn feiern.

Wie gehen diese beiden Bilder zusammen? Ich wurde neugierig und begann zu recherchieren. Wer war jener Fotograf namens Schuhmann, der den Kaiser unzählige Male fotografierte? Und welchem Zweck dienten diese Bilder?

Es stellte sich heraus, dass während des Kriegs ein durchaus martialisches Kaiserbild vorherrschte, das freilich im November 1918 mit einem Schlag zusammenbrach. Karl war berühmt und durchaus beliebt – er war es aber dank eines gewaltigen propagandistischen Räderwerks, das er selbst in Gang gesetzt hatte. Eines nämlich beherrschte dieser Mann, dem man rückblickend so wenig zutraut, perfekt: die Indienstnahme der modernen Massenmedien, vor allem des Films und der Fotografie, für seine Zwecke. Er wusste, dass Politik anno 1916 nicht mehr nur in zurückhaltender Repräsentation und emsiger Schreibtischarbeit (wie sie Franz Joseph jahrzehntelang betrieben hatte) bestand, sondern in aufwendiger medialer Inszenierung und Imagebildung, also in permanenter Öffentlichkeitsarbeit.

Und tatsächlich begann Karl seine Regentschaft mit einem Feuerwerk der Propaganda – in eigener Sache. Er war, als er Kaiser wurde, bereits geübt im Dirigieren der Fotografen und im Posieren vor der Kamera. Bereits als Teenager hatte er seine Eitelkeit mit narzisstischen Inszenierungen befriedigt. Kaum wurden ihm die ersten Aufgaben im Kriegsdienst übertragen, scharte er Fotografen um sich und ließ sich ablichten, immer und immer wieder: Am 26. September 1915 notierte der österreichische Kriegsfotograf Alexander Exax lapidar in sein Tagebuch: „Thronfolger Karl Franz Josef 28 mal geknipst.“

Am 21. November 1916 starb der greise Franz Joseph an einer Lungenentzündung. Nun war Karl Kaiser. Und er warf sich geradezu ins Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit. Am 20. Februar 1917 wurde „auf allerhöchsten Befehl“ ein eigener „Pressedienst für die Allerhöchsten Herrschaften“ eingerichtet. Zum Leiter dieser neuen Propagandaeinrichtung wurde Hauptmann KarlWerkmann bestimmt.Der Pressedienst dienteausschließlich dazu, Öffentlichkeitsarbeit fürden Kaiser zu betreiben. Er sollte, so Werkmann, „die Anhänglichkeit und Liebe der Bevölkerung zum Kaiserhause vertiefen, unrichtigen, wenn auch liebevollem Interesse entspringenden Nachrichten über die Allerhöchsten Herrschaften durch rechtzeitige Verbreitung zutreffender Nachrichten vorbeugen: bei der Unterdrückung unwahrer oder ungelegener Nachrichten, sowie bei der Berichtigung unwahrer Nachrichten mitwirken“.

Vor allem das Handwerk der Bildpropaganda beherrschte Karl Werkmann perfekt. Er sorgte dafür, dass die Fotografen nicht mehr von Karls Seite wichen. Ludwig und Heinrich Schuhmann, zwei junge Wiener Pressefotografen, die bereits im Dienst des Thronfolgers standen, gehörten nun zum offiziellen kaiserlichen Pressetross. Besonders Ludwig Schuhmann folgte Karl in den folgenden Monaten auf Schritt und Tritt. Wo der Kaiser auch auftauchte, die Kamera war stets dabei.

Besonders wichtig, so argumentierte Werkmann im April 1917, sei die möglichst „rasche Dotierung der illustrierten Blätter“ mit Aufnahmen des Kaisers. „Wenn eine Allerhöchste Reise, wie die letzte Bozener Reise, am Montag Vormittag endet, so müssen die Kopien noch am gleichen Nachmittage bei den Wiener illustrierten Blättern sein, wenn sie am nächsten Sonntag veröffentlicht werden sollen.“ Tatsächlich sei, so Werkmann weiter, der Erfolg dieser Anstrengungen bei der Presse so überwältigend, „dass seit vielen Wochen fast keine Nummer der österreichischen und ungarischen illustrierten Presse mehr ohne irgendwelche Bilder erscheint, in deren Mittelpunkt die Allerhöchsten Herrschaften stehen, und dass auch die ausländischen Blätter häufiger denn je solche Bilder reproduzieren“.

Als im Juli 1917 eine Sondernummer der illustrierten Zeitschrift „Sport & Salon“ herauskam, schlug die Imagekampagne, die Werkmann für seinen Kaiser organisierte, alle Rekorde. 141 Fotografien des Kaisers zählen wir allein in dieser Zeitschriftennummer.

Karl tat alles, um dem Bild des siegreichen Feldherrn zu entsprechen. In den knapp zwei Jahren seiner Amtszeit reiste er unablässig von Front zu Front. Im Jänner 1917 besuchte er die Dolomitenfront, im April die Isonzofront, Anfang Mai war er in Galizien unterwegs, Mitte Mai fuhr er wieder an die Dolomitenfront, im Juni 1917 besuchte er die Kriegsschauplätze in Kärnten, Istrien und am Isonzo, er fuhr nach Ungarn und wieder an die Dolomitenfront. Ende Juni, Anfang Juli war er in Galizien, im Oktober war er wieder an der Ostfront. Diese Kaiserreisen waren medial bis ins Detail durchkomponiert. Karl wurde auf Schritt und Tritt von Filmkameras und Fotografen begleitet. Die illustrierte Presse berichtete ausführlich über jede dieser Unternehmungen. Und bald flimmerte Karl auch in bewegten Bildern über die Kinoleinwände. Im Sommer 1917 wurde der Film „Unser Kaiser“ fertiggestellt: Karl nimmt Paraden ab, Karl schreitet durch Menschenmengen, Karl fährt im offenen Wagen durch das Spalier seiner Anhänger, Karl lässt sich bejubeln.

Karl war ein Schauspieler der Macht. Er war ein früher Popstar der Politik: Vor den Fotografen und Filmkameraleuten spielte er souverän die Rolle des energischen Regenten, der im Interesse seines Volkes unermüdlich unterwegs ist. Im März 1918, als die Versorgungslage der Bevölkerung in den Städten der Monarchie katastrophal war und der Hunger sich ausbreitete, traf der Kaiser in der kleinen böhmischen Stadt Graslitz (Kraslice) ein. Für die Kamera besuchte er die Volksküche der Stadt, die der Hunger leidenden Bevölkerung Ausspeisung anbot. Für diese löffelte er die Suppe aus dem einfachen Suppenteller. „Kaiser und König Karl versucht in der Graslitzer Volksküche die Suppe“ lautete der Bildtext, mit dem das Bild an die Presse ging. Tage später schon wurde es unter dem Titel „Der Kaiser im böhmischen Notstandsgebiet“ in großer Aufmachung auf den Titelseiten der Illustrierten gedruckt. Nach dem Besuch der Suppenküche schritt Karl durch ein Spalier von Schaulustigen. Wieder ist der Kaiserfotograf Ludwig Schuhmann zur Stelle. „Die Jugend von Graslitz jubelt Kaiser und König Karl beim Verlassen der Kriegsküche zu.“ So heißt es für wiederum die Presse.

Eine Zeitlang schien Karls Kalkül, umschwärmter Kaiser zu sein, aufzugehen, er schaffte es unter gewaltigem medialem Aufwand tatsächlich, vom Nobody zum umschwärmten Kaiser aufzusteigen. Aber Karls Medienfeldzug funktionierte nur unter den Bedingungen des Ausnahmezustandes. Karl Werkmann, sein Pressechef, nutzte die Mediendiktatur des Kriegs, um das Kaiserimage zu bestimmen. Karl wurde zum Star, aber die immer brüchiger werdende Monarchie konnte dieser Kaiserkult nicht retten. Im Herbst 1918 fiel das Reich innerhalb weniger Tage in sich zusammen. Auch Karls Tage waren nun gezählt. Das Kaiserimage, das unter gewaltigem Propagandaaufwand errichtet worden war, löste sich in Nichts auf. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.04.2007)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.