Der begehbare Traum

Einst zusammengetragen in Innsbruck und Prag, heute zerstreut in alle Welt. Ein Rest lagert in Depots des Wiener Kunsthistorischen Museums. Die verschwundene Samm- lung: über die gigantische Kunst- und Wunderkammer der Habsburger.

Salieri und Saliera – Giftmord und Kunstraub in Wien. Dieser Kalauer lag in der Luft, als am 11. Mai 2003 bekannt wurde, dass ein Einbrecher nach Mitternacht über ein Baugerüst in den ersten Stock des Kunsthistorischen Museums geklettert war, ein Fenster eingedrückt, das Sicherheitsglas einer Vitrine zerschlagen und die kostbare Saliera, die einzige erhalten gebliebene Goldschmiedearbeit Benvenuto Cellinis, entwendet hatte. Das Salzfass ist eine der glanzvollsten Preziosen aus der Kunst- und Wunderkammer der Habsburger, jener geheimnisvol-
len Sammlung, die aus dem Innsbrucker Schloss Ambras Erzherzog Ferdinands II. von Tirol und dem Prager Hradschin Kaiser Rudolfs II., seines Neffen, stammt. Fast drei Jahre rätselten Polizei und Öffentlichkeit, wo das Prunkstück geblieben war. Erst am 22. Jänner 2006 wurde der Wiener Sicherheitsexperte Robert Mang nach einer Schnitzeljagd mit der Polizei als Täter entlarvt, und es stellte sich heraus, dass der Kunsträuber die kostbare Kleinskulptur aus 24-karätigem Gold monatelang unter seinem Bett versteckt gehalten und später am Waldrand in der Nähe eines niederösterreichischen Dorfes vergraben hatte. Nachdem er versucht hatte, sie dem Kunsthistorischen Museum zu verkaufen, war er verhaftet worden. Ende gut, alles gut. Der italienische Hofkomponist Kaiser Josephs II., Salieri, war bekanntlich nicht der Mörder Mozarts, und auchdie Saliera befand sichwieder dort, wo sie hingehörte, wenngleich siederzeit auseinandergenommen in einem Safe liegt und in derRestaurationswerkstatt genau untersucht wird.

Benvenuto Cellini hatte das Salzfass in denJahren 1540 bis 1543 für König Franz I. von Frankreich geschaffen. Bis 1570 blieb das Artefakt im Besitz des französischen Königshauses. Als Karl IX. die Tochter des habsburgischen Kaisers Maximilian II. heiratete, übernahm der Onkel der Braut, Erzherzog Ferdinand II. von Tirol, die Stelle des Bräutigams „in procurationem“. Zum Dank dafür ließ ihm der französische Monarch durch seinen Gesandten kostbare Geschenke überreichen, darunter die Saliera, die von da an ein Teil der weithin gerühmten Kunst- und Wunderkammer des Erzherzogs auf Schloss Ambras in Innsbruck wurde. Ferdinands II. Urgroßvater war der legendenumwobene Maximilian I. – eine Gestalt zwischen Märchen und Politik –, sein Vater war Kaiser Ferdinand I. und sein älterer Bruder der erwähnte Kaiser Maximilian II. Als der Erzherzog geboren wurde, existierte bereits eine Sammlung seiner Vorfahren: Harnische, Rüstungen, Waffen, Handschriften und kostbare Einzelstücke wie der goldene „Maximilianpokal“, der kleine geschnitzte Tod aus Birnbaumholz, das „Tödlein“, oder die bewunderte goldgefasste „Natternzungenkredenz“, die mit fossilen Haifischzähnen geschmückt war, welche man irrtümlich für Schlangenzungen hielt.

DIE ERSTEN ZEHN JAHRE seines Lebens verbrachte Erzherzog Ferdinand II. in Tirol, 1539 schickte man ihn nach Prag, und als 18-Jähriger wurde er bereits zum Vizekönig von Böhmen ernannt. Neun Jahre später kämpfte er mit 10.000 Mann in Ungarn gegen die Türken. Er wurde Ritter vom Goldenen Vlies und heiratete die wohlhabende Augsburger Patriziertochter einer Handels- und Bankiersfamilie, Philippine Welser, allerdings musste er sich zu strenger Geheimhaltung seiner morganatischen Ehe verpflichten.Sein Vater, Kaiser Ferdinand I., „gewährte ihm“ zwar, wie es heißt, „vol-
le Verzeihung“, aber die Söhne Andreas und Karl blieben von der Erbfol-
ge ausgeschlossen. Nach dem Tod des Kaisers erhielt der Erzherzog die Grafschaft Tirol zugesprochen, Schloss Ambras wurde ausgebaut. Erst 19 Jahre nach der Trauung entband der Papst den Erzherzog von der Pflicht zur Geheimhaltung seiner Ehe mit einer Bürgerlichen, als ihr älterer Sohn Andreas zum Kardinal ernannt wurde. Nach dem Tod seiner Frau heiratete der Erzherzog seine Nichte Anna Caterina Gonzaga, aber die Verbindung blieb kinderlos. Am 24. Jänner 1595 starb Ferdinand II. in Innsbruck. Zurück blieb die inzwischen auf Tausende Objekte angewachsene Sammlung, eine Welt en miniature, ein Mikrokosmos, ein „Theatrum mundi et sapientiae“.

In der „Kornschütt“, deren charakteristisches Merkmal der hohe, dreigeschoßige Dachstuhl war, wo im Winter das Getreide gelagert wurde, befanden sich Bibliothek, Antiquarium – eine Sammlung antikerSkulpturen und Münzen – und die „KleineRüstkammer“. Es folgte das Museum mit drei unterschiedlich hohen Trakten. In diesem Teil des „Unterschlosses“ war in vier Sälen die umfangreiche Waffensammlung aufgestellt. Das Verbindungsgebäude zur„Kornschütt“ enthielt in einem einzigen großen, achtachsigen, von beiden Seiten durch hohe Fenster erhellten Saal die „Kunst- und Wunderkammer“. In der Hauptachse standen in der Mitte 18 vom Boden bis zur Decke reichende Kästen, wozu noch zwei kleinere an den Schmalseiten kamen. „Die Wände waren“, schreibt Elisabeth Scheicher in „Die Kunst- und Wunderkammern der Habsburger“, „dicht behängt mit Bildern religiösen und profanen Inhalts.“ Von der Decke hingen präparierte Haifische, Krokodile,Schlangen, missgebildete Tiere und große Knochen, die angeblich von Riesen, tatsächlich aber von einem Mammut stammten. Das „Lernen durch Anschauung“, schreibt Elisabeth Scheicher weiter, sei als ein ästhetisches Vergnügen betrachtet worden, und das erlesene Publikum – Adel, Feldherren, Gesandte – sollte sich wie in einem Theater fühlen.

DER INHALT DER KÄSTEN war unabhängig von Bedeutung, Herkunft oder Alter der Gegenstände nach Materialgleichheit geordnet. Dieses System übernahm Ferdinand II. von der berühmten „Historia naturalis“, der 37-bändigen Naturgeschichte Plinius' des Älteren aus dem ersten Jahrhundert nachChristus. „Die großen, gegen Staub und Sonnenlicht mit Leinenvorhängen geschützten Kästen waren (zum Teil) innen ausgemalt, und zwar so, dass die gewählte Farbe auf die davor placierten Objekte abgestimmt war“, setzt Elisabeth Scheicher fort. „So enthielt der erste die Arbeiten aus Gold vor Blau, der zweite Silber vor Grün, der dritte die anthrazitfarbenen Handsteine vor Rot und so weiter, um den Gegenständen ein Optimum an
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Wirkungsmöglichkeit zu verschaffen.“ Eine Auflistung der Objekte in den einzelnen Schränken kann einen Eindruck von Umfang und Aussehen der Sammlung vermitteln, ohne allerdings die Vielfalt der Erscheinungen erfassen zu können.

Im ersten, dem blauen Kasten befanden sich Erbstücke und „Curiosa“, Gegenstände aus Bergkristall: Gläser, Krüge, Tafelaufsätze, und aus Gold: Pokale, Monstranzen. Im grünen, zweiten Ererbtes und Erworbenes, Objekte aus Silber. Im roten, dritten waren 41 sogenannte „Handsteine“ ausgestellt, „Berge“ in Mikro- oder Bonsaiformat, wenn man so will, die nicht größer waren als eine Hand,aufwendig umgestaltet zu Landschaften mit Figuren oder biblischen Szenen. Der größte im Inventar beschriebene war mit 69 Tieren aus Silber, zwei Jägern und mehreren Bäumen und Pflanzen verziert. Der weiße vierte Schrank enthielt Musikinstrumente – wie dasGlasglockenklavier, die Drachenschalmeien, sogenannte „Tartölten“, Hackbrett, Sackpfeife und „Olifant“, wie das Jagdhorn bezeichnet wurde, der als „leibfarben“ beschriebene fünfte Schrank Geräte für Raum- und Zeitmessung, Automaten und weitere wissenschaftliche Instrumente: Astrolabien, Sextanten, Kompasse, eine Mondphasenuhr, einen Glockenturmautomaten. Im ockerfarbenen sechsten Kasten befanden sich Werke aus Stein, aus Marmor – so ein merkwürdiger „Tödlein-Schrein“ mit einem kleinen, weißen Menschenskelett, versteinertes Holz, ein Ammonit mit Schlangenkopf, ein fossilierter Fisch oder eine Christusfigur aus Bernstein. Im unbemalten siebenten Kasten waren Gegenstände aus Eisen zu sehen, Werkzeug, kunstvolle Schlösser, aber auch Folterinstrumente. Der unbemalte achte Schrank war dem Themenkreis Buch gewidmet und enthielt Codices mit Illuminationen, wertvolle, mit Holzschnitten illustrierte Bücher über Zoologie, Botanik, Mineralogie und Astronomie, Platos Abhandlung „Timaios“ und Albrecht Dürers „Proportionslehre“. Der unbemalte neunte Schrank war für alles, was mit Tierfedern zusammenhing, vorgesehen, Kopfschmuck oder Bilder und Mosaike aus Federn in allen Farben.

Im unbemalten zehnten Schrank fanden sich Werke aus Alabaster. Der elfte war schwarz bemalt und zeigte Glasarbeiten: Deckelpokale, Schmuck, ein Schachspiel,der unbemalte zwölfte wiederum alles, was aus Korallen hergestellt wurde: Behälter für Schreibzeug, kleine Skulpturen – wie Herkules im Kampf mit der Hydra oder ein „Korallenkabinett“ mit dem Berg Golgatha und der Kreuzigung. Im unbemalten 13. Kasten befanden sich Arbeiten aus Bronze, beispielsweise eine Venusstatue und ein Krieger zu Pferd, vor allem aber die geschätzten „Naturabgüsse“ zuvor in Branntwein getöteter, dann mit Ton bestrichener und schließlich in Bronze gegossener Tiere – wie Schlangen, Frösche oder Krebse, die als Öllampen, Tintenfässer oder als Ziergegenstände Verwendung fanden und mit dem Begriff „Stil rustique“ bezeichnet wurden. Im unbemalten 14. Kasten wa-
ren Werke aus Ton und Porzellan untergebracht, darunter ein „Scherzgefäß“: eine Trinkflasche,die einen ländlichen„Tantalus“ darstellte, der mit beiden Armen die Tischplatte stützte, welche wie eine Krause seinen Hals umfing, und deshalb die Speisen und Getränke nicht erreichen konnte.

Der unbemalte 15. Kasten enthielt kleine Kunstschränke – wie einen Kabinettschrank aus Ebenholz oder ein Münzkästchen. Der unbemalte 16. war „besonderen“ Waffen gewidmet, der unbemalte 17. Kasten einem „Mixtum compositum“ vorbehalten, das die Ordnung nach Materialgleichheit, wie sie Plinius der Ältere vorgab, durchbrach. Fächer fanden sich darin ebenso wie ein Säckchen aus Krokodilleder, chinesische Seidenbilder, Schlangenhäute und ein weiterer Scherzartikel: eine Schlange aus Draht in einer Schachtel, auf der geschrieben stand: „ein herrlich scheen kunststuckh“. Sobald ein Neugieriger den Deckel öffnete, sprang ihm die Schlange ins Gesicht. Oder der berühmte „Schüttelkasten“: Der Betrachter blickte von oben in einen verglasten Holzkasten, in dem kleine nachgebildete Schnecken, Muscheln, Lurche, Käfer, Schildkröten, Schlangen und Skorpione in Nischen versteckt waren, sodass anfangs nur eine Wiese aus Moos, Stroh und Gips zu sehen war. Wenn man den Holzkasten in Schwingung versetzte, begannen sich die Miniaturtiere darin zu bewegen, weil sie mittels kurzer Drähte nur lose an ihren Angelpunkten am Boden befestigt waren. Der unbemalte 18. Schrank wiederum enthielt Dinge aus Holz, geschnitzte Heiligen- und Schachfiguren, Gefäße, Schalen – Kunststücke mit reiner Schaufunktion –, der kleinere 19. Kasten zeigte Gegenstände aus Perlmutt und Elfenbein, darunter Kassetten mit Reliefs, Löffel und Drechselarbeiten, und der ebenfalls kleinere 20. Schrank war für „Curiosa“ vorgesehen: den verloren gegangenen Strick, mit dem sich der Sage nach Judas erhängt haben soll, oder einen Zapfen jener Zeder, aus der angeblich der Tempel Salomons erbaut worden war.

DIE WÄNDE WAREN MIT GEMÄLDEN behängt, vorwiegend mit Bildnissen der eigenen Familie. Daneben, also gleichwertig, fanden sich aber auch Darstellungen damals lebender „Naturwunder“, worunter man vor allem Menschen und Tiere mit körperlichen Anomalien verstand: Riesen und Zwerge, auch Verkrüppelte und die sogenannten „Haarmenschen“. Riesen waren an den Höfen am begehrtesten. So ließ sich Kaiser Rudolf II. 1560 auf dem Wiener Turnier von dem 2 Meter 40 großen Hofriesen aus Schloss Ambras, Giovanni Bona, genannt „Bartlmä Bon“, dessen Ritterrüstung sich auf Schloss Ambras und dessen Skelett sich jetzt im Anatomischen Institut in Innsbruck befinden, zu den Kämpfen geleiten. Von Bona ist außerdem eine lebensgroße Figur aus Holz erhalten – ebenso wie ein Ölgemälde eines anderen Riesen, Hans Knaus, er misst darauf 2 Meter 87. Auf einem weiteren Bild ist „Bartl-mä Bon“, der aus Riva bei Trient stammte, zusammen mit dem Hofzwerg „Thommele“ dargestellt, der auf einem hochadeligen Hochzeitsbankett in München aus der Pastete sprang, als diese angeschnitten werden sollte. Insgesamt befanden sich neben drei Porträts von „Thommele“ noch vier weitere Bildnisse von Zwerginnen und Zwergen in der Kunst- und Wunderkammer. Von besonderer Attraktion war vermutlich der kleinwüchsige Italiener „Magnifico“. Mit seinen 18 Jahren soll er wie ein 80-Jähriger ausgesehen haben. Nachheutigem Wissensstand litt er am Hutchinson-Gilbert-Syndrom, einer seltenen Krankheit, die das vorzeitige Vergreisen von Kindern verursacht.

Weitreichende Beziehungen waren nötig, um sich mit den begehrten „Anomalia“ zu versorgen, so brachte 1585 ein Lakai drei Zwerge aus Polen in das Schloss Ambras. Am krassesten drücken sich die ungehemmte Neugier und auch böse Freude an der Andersartigkeit im „Bildnis eines behinderten Mannes“ aus, der, nackt auf dem Bauch liegend, nur mit einer weißen Krause um den Hals und einer roten Kappe auf dem Kopf bekleidet ist. Der linke Arm, den er ausgestreckt an den Körper hält, erweckt den Anschein von Muskelschwund. Die nach hinten gekreuzten Beine sind im Verhältnis zum Oberkörper zu dünn und kurz, der sichtbare Fuß weist nur vier Zehen auf, wobei die große besonders stark entwickelt ist. Es wird vermutet, dass der Dargestellte mit dem Fuß schrieb. Als Spätdiagnose für die Verkrüppelung des Bedauernswerten wurde Arthrogrypose, eine Erkrankung des Bindegewebes, festgestellt, die Fehlbildungen der Gliedmaßen hervorruft. Ein über dem gemalten Körper auf die Leinwand geklebtes rotes Papier, das vom Betrachter angehoben werden musste, verstärkte vermutlich noch die Neugierde, einen Blick auf den Mann zu werfen.

Am bekanntesten sind die Ölgemälde der Familie des Haarmenschen Pedro Gonzalez. Im 16. Jahrhundert waren Einblattdrucke von „Naturwundern“ keine Seltenheit, weshalb sich der Ruhm von „Anomalia“ rasch verbreitete. Der Naturwissenschaftler Ulisse Aldrovandi und sein Nachfolger Bartolomeo Ambrosini gaben in Bologna eine elfbändige Enzyklopädie einer „Historia naturalis“ heraus, deren sechster Band der „Geschichte der Monster“ gewidmet ist. Darin werden auch Fabelwesen beschrieben – wie ein Mensch mit dem Gesicht und Hals eines Kranichs, ein Knabe mit Elefantenkopf oder ein Franzose mit einem Widderhorn auf der Stirn. Trotz aller Wissenschaftlichkeit, verrät diese Abhandlung, wurde dem Glauben immer noch der Vorzug gegenüber dem Wissen gegeben. Aber neben den Fabelwesen schildert die „Historia monstrorum“ auch Missbildungen bei Tier und Mensch, darunter eben die Geschichte des Haarmenschen Pedro Gonzalez und seiner Familie. Schon als Kind wurde Pedro dem französischen König zum Geschenk gemacht. Heinrich II. war von ihm so angetan, das er ihn sogar ein Studium beginnen ließ. Pedro Gonzalez heiratete in Paris eine schöne Französin, die ihm drei Kinder schenkte, von denen zwei ebenfalls behaart waren. Politische Wirren führten die Familie nach Deutschland und Italien an Fürstenhöfe, wo man ihnen Schutz gewährte, sie aber gleichzeitig wie wilde Tiere ausstellte. Der älteste Sohn fand für die Familie endlich eine Bleibe in einem abgelegenen Dorf am See von Bolsena, wo sie ein normales Leben führen konnten.

Bemerkenswert ist auch das Gemälde ei- nes ungarischen Edelmannes, der mit einer abgebrochenen Turnierlanze in einem Auge dargestellt ist, welche sogar aus dem Hinterkopf ragt. Trotz seiner schweren Verletzung soll der unglückliche Adelige noch jahrelang auf diese Weise gelebt haben. Auch Darstellungen abnormer Tiere gehörten zu einer Kunst- und Wunderkammerausstattung, so das Bild eines acht Zentner schweren „haimisch Schwein“ oder eines „gescheggeten Rehpock“.

Die chaotisch anmutende Sammlung beruhte in Wahrheit nicht nur auf der bloßen Zusammenführung von gleichen Materialien, sondern auch auf einerschlüssigen Grundidee:Der Erdball selbst mitallem, was ihn bevölkerte, war für Fürsten, Könige und Kaiser, später auch für Wissenschaftler, Apotheker und Ärzte eine Kunst- und Wunderkammer Gottes, die sich in der eigenen Sammlung widerspiegeln sollte. In Europa wurden Anfang des 17. Jahrhunderts nicht weniger als 986 bürgerliche Museen dieser Art erfasst, wie jene des Athanasius Kircher im Vatikan oder des Francesco Calzolari in Verona, die Naturaliensammlung des Basilius Besler in Nürnberg und jene Pierre Borels in Paris, das Museum Ole Worm in Dänemark oder Ulisse Aldrovandis herausragende Kollektion in Bologna. „1577“, notiert Philipp Blom in seinem Buch „Sammelwunder, Sammelwahn“, „zählte das Museum 13.000 Objekte, 1595 waren es 18.000 und um die Jahrhundertwende 20.000. – Die Sammlungen formten ein Netzwerk des Wissens, das sich über ganz Europa spannte, und Gelehrte korrespondierten regelmäßig miteinander, führten lange Kontroversen und schrieben umfangreiche Bücher über Zweck und Ordnung von Sammlungen und der Welt, die diese reflektieren“, stellt Blom fest und führt aus, dass sich daraus eine Mode entwickelt hat, die bald in allen europäischen Städten anzutreffen war.

Die größten Sammlungen befanden sich an Königs- und Fürstenhöfen – wie die erste und lange Zeit bedeutendste dieser Art, die des Duc de Berry und seines älteren Bruders, Karls V., in Paris, oder jene Cosimos und Pieros de Medici in Florenz und später die Münchner Kunstkammer des Wittelsbachers Albrecht V. Außerdem die noch immer bestehende Kunst- und Wunderkammer des Kurfürsten August I. von Sachsen im sogenannten „Grünen Gewölbe“ in Dresden, die bereits dem Barock zuzuordnen ist. Für die Adeligen waren solche Sammlungen auch „Zeugnis universalen Herrschaftsanspruchs und bildhaft gewordene Kosmologie, in deren Mittelpunkt sich der Fürst selbst sah“, wie Elisabeth Scheicher festhält.

DER SAMMELTRIEB BERUHTE DARAUF,eine eigene Welt im Kleinen zu bilden und den Charakter des göttlichen Schöpfungsspiels zu imitieren, denn die Natur, wusste man bereits, entfaltete sich in unendlichen Metamorphosen. Die scheinbare Unordnungvon Gegenständen der Natur und Kunstwerken war eine vorsätzliche, um visuelle Brücken zwischen ihnen zu bauen und dadurch das Assoziationsvermögen anzuregen. Naturgeschichte in menschlicher Kunst gipfeln zu lassen, betont Horst Bredekamp in „Antikensehnsucht und Maschinenglauben“, sei der Versuch, die Variationsfähigkeit der Natur vollständig zu erkunden und damit ihre Geschichtlichkeit zu erkennen – anstatt weiter der Geschichtslosigkeit des statischen Schöpfungsberichtes anzuhängen. Bredekamp sieht aus der Zusammenführung von Natur, antiker Skulptur, Kunstwerk und Maschine ein neues Denken in Bildern entstehen. Das habe die Kunstkammern zu einem „Theatrum naturae et artis“, einem Theater der Natur und Künste, werden lassen.

Man unterschied anfangs lediglich zwischen „Naturalia“, den Hervorbringungen der Natur, und „Arteficialia“, Kunstwerken der Natur und des Menschen. Mineralien und pflanzliche Materialien sollten, wie Dirk Syndram ausführt, in ihrer „Schönheit, Seltenheit und Kostbarkeit dem staunenden Besucher dargeboten werden. Ebenso präsentiert werden sollten aber auch die ,artes‘, die Kunstfertigkeit unddie wissenschaftlichenMöglichkeiten, mit denen der Mensch diesebearbeiten, erforschenoder sonst auf sie einwirken konnte, um damit der göttlichen Kreation mittels geistigerKraft Neuschöpfungenvergleichbarer Vollendung zur Seite stellen zukönnen.“ Naturproduktund Artefakt wurden daher nicht als Gegensatz begriffen, es ging vielmehr um die Durchdringung und Ergänzung des einen mit dem anderen. Bei Steineinlegearbeiten wurde so das Malerische gesucht, andererseits wurden auf geschliffene Steine Bilder gemalt, wobei die Maserung in die Gestaltung mit einbezogen wurde. Goldschmiedearbeiten verbanden Naturprodukte wie Elfenbein, Perlmutt und Schildpatt mit kunsthandwerklicher Meisterschaft zu prunkvollen Pokalen, Vasen oder Möbelstücken. Die aus einem Kirschkern geschnitzte Plastik mit einer Fassung aus emailliertem Gold war ein Beweis dafür, wie aus einem unscheinbaren, winzigen Partikel Natur von Menschenhand ein virtuoses Naturkunstwerk geschaffen werden konnte.

Besonders hoch stand die Kunstdrechslerei im Ansehen. Da die Kunst des Drechslers das Spielerische mit der höchsten Fertigkeit verband, wurde er symbolisch mit dem Schöpfergott verglichen, und Fürsten, Erzherzöge, ja sogar mehrere Kaiser besaßen luxuriöse Drechselbänke, an denen sie, unterstützt von Meistern des Fachs, dem Allmächtigen nacheiferten. Einen weiteren Höhepunkt in dem Streben nach Vereinigung von Kunst und Natur stellte der erwähnte „Stil rustique“ dar, „Naturabgüsse“ in Bronze oder Silber.

„NATURWUNDER“ bei Mensch, Tier und Pflanze wurden später im Inventar der Sammlung Kaiser Rudolfs II. in Prag als „Mirabilia“ bezeichnet. Die „Scientifica“ wiederum umfassten Uhren, Astrolabien, Kompasse bis hin zu Automaten – erstaunliche Kreationen menschlicher Erkenntnis und Handfertigkeit. Mit „Antiquitas“ wurden Münzen, Gemmen und Kameen, aber auch „heidnische“ Skulpturen bezeichnet. Sie wurden jedoch zumeist getrennt von der Kunstkammer in eigens dafür errichteten Antiquarien, in Antikengärten oder in Palästen selbst aufgestellt. Der Wissensdrang im 15. Jahrhundert hatte ja an die Erkenntnisse der Antike angeknüpft, an Aristoteles, Plato oder Plinius den Älteren, woraus sich gleichzeitigeineVerehrungfürgriechischeund

römische Kunst ergab. Als Folge der europäischen Welteroberung kamen unbekannte Waren und Dinge nach Europa, die schließlich in Kaiser Rudolfs II. Inventar als „Exotica“ bezeichnet wurden.

ES WAR DAS ZEITALTER der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus und des Seewegs nach Indien durch Vasco da Gama, der blutigen Eroberung Mexikos durch Hernando Cortés, der auf der Suche nach sagenhaften Goldschätzen die Kultur und das Reich der Azteken vernichtete, und der nicht weniger blutigen Eroberung Perus durch Francisco Pizarro, der raffgierig die Kultur und das Reich der Inkas zerstörte, und es war nicht zuletzt das Zeitalter Magellans, der als Erster die Welt umsegelte. Im 16. Jahrhundert war die Aneignung der Weltmeere fast unumschränkt von Portugal und Spanien bestimmt, im 17. Jahrhundert lösten aber die Niederlande die iberischen Nationen als Handelsmächte ab. Zunächst beim Zwischenhandel von Kolonialwaren für die nordeuropäischen Märkte, bald aber segelten sie selbst nach Südasien und errichteten dort Handelsgesellschaften.

Aus allen entdeckten, eroberten und neubesiedelten Ländern gelangten Dinge, die sich jedem Vergleich entzogen, nach Europa. Von der Kokosnuss bis zum Straußenei, vom Goldschatz bis zum Indianer wurden sie als atemberaubende Wunder zur Kenntnis genommen. Die Kunstkammern der Fürsten und reichen Bürger wurden zu Heimstätten der Beutestücke europäischer Eroberer.

Allen Sammlern voran, brachten die Habsburger die begehrten Waren in ihren Besitz, denn als Könige von Spanien, von wo aus ganz Mexiko und Südamerika mit Ausnahme von Brasilien erobert worden waren, saßen sie gewissermaßen an der Quelle. Durch ihre konsequente Heiratspolitik waren sie darüber hinaus auch mit den Königen von Portugal verbunden. So gelangten große Scheiben, die für kultische Zwecke gedient hatten, und sogar Hüte aus Gold und Silber, Federschmuck, Fächer, Schilde und unzählige andere Gegenstände in ihren Besitz, darunter, wie Elisabeth Scheicher vermerkt, auch vier indianische Gefangene als lebende „Mirabilien“: „Die Geschenke des Montezuma stellte Karl V. während seiner Hofhaltung in Brüssel zur Schau, wo sie Albrecht Dürer sehen konnte. Er berichtet im Tagebuch seiner niederländischen Reise: Und ich hab all mein Lebtag nichts gesehen, das mein Herz so erfreut hat als diese Ding.“

Auffallend an Erzherzog Ferdinands II. Kunstkammer ist der geringe Anteil an mystisch-magischen Objekten und Materialien. Die aber sollte ein anderer in reichlicherem Ausmaß erwerben, Kaiser Rudolf II., sein Neffe, der Schloss Ambras und die Kunstkammer nach dem Tod seines Onkels um 170.000 Gulden für das Haus Habsburg erwarb.

Rudolfs Eltern, Kaiser Maximilian II. und Maria, eine Tochter Karls V., waren Geschwisterkinder. Während der Vater eher dem Protestantismus zuneigte, war seine Frau streng katholisch. Der Ehe entsprossen 16 Kinder, Rudolf, der älteste Sohn des Kaiserpaares, kam am 18. Juli 1552 zur Welt. Mit elf Jahren lud Philipp II. ihn und seinen Bruder Matthias an den spanischen Königshof ein, wo sie in den nächsten acht Jahren eine humanistischeAusbildung erhielten. Sie lasen römische Schriftsteller, sie beschäftigten sich mit der Bibel, auchmit Mythologie und Geschichte und nahmen das strenge und seltsa- me spanische Hofzeremoniell in sich auf. 1568 waren die Brüder Zuschauer eines Autodafés in Toledo, der Hinrichtung eines von der Inquisition Verurteilten auf dem Scheiterhaufen. Das öffentliche Schauspiel hat Rudolf vermutlich missfallen, denn er räumte später der Inquisition in Böhmen kaum Macht ein. 1572 wurde er zum König von Ungarn, 1575 zum König von Böhmen gekrönt. Von da an residierte er im Prager Hradschin, auch noch als er 1576 nach dem Tod seines Vaters zum Kaiser gekrönt wurde. Mit seinem Bruder Matthias war er inzwischen unversöhnlich zerstritten, der Konflikt führte schließlich zum „Bruderzwist in Habsburg“, über den Franz Grillparzer das gleichnamige Drama schrieb.

RUDOLF II. WAR HYPOCHONDRISCHund litt an Syphilis und Depressionen. SeinHof auf dem Hradschin war ein eigenes Universum. Der „Alchemist auf dem Kaiserthron“, wie er genannt wurde, beschäftigte sich mit Astronomie, Astrologie und chemischen Experimenten und ließ sich an seine Wunderkammer sogar ein Labor bauen. Zeit seines Lebens war er von der Idee besessen, den „Stein der Weisen“ zu finden, mit demes ihm gelingen würde, aus unedlen Metallen Gold zu machen. Eine kleine Portion des roten Pulvers, hieß es, sollte auf eine größe- re Menge geschmolzenen unedlen Metalls oder siedendes Quecksilber gestreut und der Schmelztiegel wieder geschlossen werden. Innerhalb kurzer Zeit würde dann die Transmutation, die Umwandlung des Tiegelinhalts in Gold erfolgen. Zahlreiche Wissenschaftler glaubten jahrhundertelang an die Existenz des Zaubersteins, obwohl keiner ihn gesehen hatte und jeder nur vermutete, dass andere ihn besäßen. Die Alchemie war deshalb auch ein fruchtbares Feld für Verrückte, Schwärmer und Betrüger, dienicht selten am Galgen endeten.

Der Kaiser gründete eine „Akademie der Alchemie“ und ließ die berühmtesten Alchemisten seiner Zeit kommen: Denis Zacharias, Nicholas Bernaud, Oswald Croll sowie die Ärzte Bavor Rodowsky Hustian d.J., Václav Lanwin, Thaddaeus Budek von Falkenbergka und Thaddäus Hájek. Rudolf kannte sich mit Destillierkolben, Glasphiolen, Büretten aus und besaß magische Gegenstände: Alraunenwurzeln, ein angeblich vom Himmel gefallenes Fell, den Kiefer einer griechischen Sirene und eine in einen Kristall eingeschlossene Teufelssilhouette.

Er holte auch den berühmten Astrologen, Astronomen und Mathematiker John Dee an seinen Hof, der in England wegen des Verdachts der Hexerei für zwei Monate eingekerkert gewesen war und später für Königin Elisabeth I. als Spion tätig war, wobei er seine Berichte mit 007 unterzeichnete. Dee war eingelehrter Mann, er besaß eine größere Bibliothek als die Universitäten in Oxford und Cambridge und hatte sichder Alchemie, der Kabbala und medialen Kontakten aus dem Jenseits zugewandt. 1583 traf er zusammen mit dem Magier Edward Kelley, der eigentlich Talbot hieß und keine Ohren mehr besaß, da man sie ihm als Strafe für mehrere Urkundenfälschungen abgeschnitten hatte, in Prag ein. Kelley gelang es vor den Augen des kaiserlichen Leibarztes Thaddäus Hájek – durch welchen Taschenspielertrick auch immer –, ein Pfund erhitztes Quecksilber in Gold umzuwandeln. Rudolf II. ernannte ihn daraufhin zum Freiherrn von Böhmen und verlangte, das Kunststück mit eigenen Augen zu sehen. Kelley hielt den Kaiser mit Versprechungen so lang hin, bis dieser ihn in das sogenannte „Zernerschloss“ sperren ließ. Bei einem Fluchtversuch brach sich der Alchemist ein Bein und verstarb 1587 an der Verletzung. John Dee kehrte 1589 nach England zurück, wo er vergeblich versuchte, für König Jakob I. Gold zu machen.

Rudolf II. beschäftigte aber auch herausragende Wissenschaftler wie Tycho Brahe, für den er eine Sternwarte bauen ließ, und den protestantischen Johannes Kepler. Brahe, der noch dem geozentrischen Weltbild anhing, bei dem die Erde Mittelpunkt des Alls ist, erstellte für den abergläubischen Kaiser auch pessimistische Horoskope, die Rudolfs Misstrauen in seine Umgebung nochmehr vertieften. Außerdem stellte Brahe für ihn ein an Paracelsus orientiertes, quecksilberhaltiges Elixier zusammen, mit dem der Kaiser seine Syphilis behandelte. Rudolf II. musste später sogar ein falsches Kinn aus Leder tragen, da eine Ostitis als Folge seiner Krankheit den Kieferknochen zerstört hatte. Der Prager Anthropologe Vlek, der 1973 die sterblichen Überreste des Kaisers untersuchte, führt die UnfähigkeitRudolfsII., zu heiraten,darauf zurück. SeineKrankheit habe ihm nureine näselnde und unverständliche Spracheerlaubt, weshalb er aucheine Abneigung gegenAudienzen gehabt ha-
be. Schon 15 Monatenach seinem Eintreffenin Prag und noch bevor der Bau der Sternwarte vollendet war, starb Tycho Brahe, vermutlich an einer Quecksilbervergiftung. Es gab jedoch denunziatorische Gerüchte, dass Kepler, der sein Nachfolger wurde, ihn ermordet habe. Kepler, der das heliozentrische Weltbild mit der Sonne als Mittelpunkt für richtig erkannte, musste nun selbst für seinen Herrscher Horoskope berechnen, angeblich bestimmte er sogar im Voraus das genaue Todesjahr des Kaisers. Seine wissenschaftliche Arbeit krönte er mit den ersten beiden seiner drei nach ihm benannten Gesetze, die auf der Vorarbeit Tycho Brahes beruhten, und später mit den als „Rudolfinische Tafeln“ bezeichneten genauen Bestimmungen der Planetenpositionen.

Auch der italienische Philosoph Giordano Bruno, der das neue, naturwissenschaftlich bestimmte Weltbild mit dem Neuplatonismus verband und im Jahr 1600 in Rom auf dem Scheiterhaufen starb, war wegen seiner Neigung zu Magie und Okkultismus Rudolfs Gast, und selbst der legendäre Rabbi Löw – angeblich Schöpfer des „Golems“, eines Homunkulus aus Lehm, wie Alchemisten einen künstlichen Menschen bezeichneten – soll mit dem seltsamen Kaiser in Verbindung gestanden sein. Rudolf II. war jedoch auch ein überaus kunstsinniger Sammler. In ganz Europa schwärmten seine Agenten aus, die für ihn die begehrten Objekte begutachteten und kauften, und sein Hof war ein Zentrum der Maler, Kupferstecher, Medailleure, Kunsttischler, Steinschneider und Goldschmiede. 1602 ließ er eine Krone anfertigen, die ab 1804 symbolisch als österreichische Kaiserkrone diente und in der Schatzkammer der Hofburg aufbewahrt ist.

IN DEN INVENTARLISTEN sind für dieSammlung im Hradschin mehr als 3000 Gemälde verzeichnet, von Arcimboldo, Michelangelo, Leonardo da Vinci, Raffael, Giorgione bis Dürer oder Rubens. Der Hofmaler Giuseppe Arcimboldo – der Kunsthistoriker Werner Kriegeskorte bezeichnet ihn als „manieristischen Zauberer“ – diente demHause von Österreich26 Jahre lang. Er maltenicht nur, sondern gestaltete auch Turniere,Spiele, Feste, Krönungen und richtete Hochzeitsbankette aus. Dafür entwarf er Kostüme, aus- gefallene Figuren und groteske Masken. In einem Festzug ließ er so als Drachen verkleidete Pferde und einen echten Elefanten mitlaufen. Zeitgenossen lobten seinen Einfallsreichtum als Architekt und Festungsbaumeister und seinen Erfindungsgeist. Wahrscheinlich ließ sich Arcimboldo auch von der Kunst- und Wunderkammer Rudolfs II. inspirieren, denn er fand dort ausgestopfte Vögel aus der ganzen damals bekannten Welt, Mumien, das Rostrum eines Sägefisches, riesige Muscheln, Kristalle und illustrierte wissenschaftliche Werke. Er malte Brustbilder von Menschen, die aus Blumen, Meeresgetier, Früchten, Gemüse, Wurzelwerk und Blättern oder nackten Menschenleibern zusammengesetzt waren. Das Werk Arcimboldos ist quasi als inneres Abbild, als Seelengemälde der Kunst- und Wunderkammer Rudolfs II. zu begreifen.

25.000 Skulpturen und Tausende von anderen Objekten machten den Hradschin zu einer labyrinthischen Schatztruhe. Die Sammelleidenschaft des Kaisers war obsessiv und morbid, was auch sein gesteigertes Interesse für Monstrositäten beweist. Er besaß mehrere „Bezoare“ – der Name leitet sich aus dem Persischen ab: „Bad-sahr“ bedeutet „Gegengift“, mit „Bezoar“ bezeichnete man die kugelförmigen, weißgrauen Magensteine von Ziegen, Pferden oder Lamas – und trug die kleineren in Gold gefasst über dem Herzen, da sie angeblich gegen Melancholie halfen, oder fertigte (wegen ihrer angeblich neutralisierenden Wirkung auf Gifte) aus den großen Pokale an.

Rudolf II. besaß außerdem mehrere zweiköpfige Missgeburten, die in Glasbehältern konserviert waren, und hatte ferner einenHasen mit einem Kopf und zwei Körpern sowie ein zweiköpfiges Kalb präparieren lassen. Von einem seiner Hofmaler, Joris Hoefnagel, ließ er sich ein vierbändiges Bestiarium zusammenstellen, dessen Bilder von
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akribischer Naturtreue sind. Doch war er gleichzeitig überzeugt von der Existenz damals geläufiger Fabelwesen, von Greifvögeln mit dem Kopf eines Geiers und dem Körper eines Löwen, von Drachen und Einhörnern, die sich angeblich nur von Jungfrauen zähmen ließen. Obwohl sein Hofwissenschaftler Boethius de Boodt ihn auf Narwale und Walrösser sowie deren Zähne hinwies, ließ sich der Kaiser von seinem Glauben nicht abbringen. In seiner Sammlung findet sich ein Aquarell dieses Fantasiewesens, mit Fischschwanz und flossenartigen Füßen im Wasser schwimmend, und ein Deckelbecher,dessen Cuppa aus einem Narwalzahn bestand, den er aber für ein Einhorn hielt. Entsprechend kostbar war die goldene Fassung aus Email, Diamanten, Rubinen und Achat. Außerdem besaß der Monarch neben der Unmenge an anderen Gegenständen einen Klumpen Lehm aus dem Hebrontal, aus dem, wie im Inventar festgehalten, Gott den ersten Menschen, Adam, formte. Weiters den Stab des Mose und viele mechanische Kunstwerke, in denen die tote Materie zum Leben erweckt wurde, wie einen Diana-Automaten, bei dem die Göttin der Jagd auf einem Kentauren ritt, der über die Tafel fuhr und auf die Tischgesellschaft einen Pfeil abschoss, oder ein Schiffsmodell, das in Bewegung gesetzt Musik erklingen ließ.

DIE FÜLLE DER OBJEKTE NAGTE je-
doch an seiner Psyche, er begann sie zu verstecken, ein- und ummauern zu lassen, einzukellern und zu vergraben.Ursprünglich umfasste seine Kunst- und Wunderkammer drei hintereinander liegende Räume, der zwei Gewölbe vorgelagert waren. Die einzelnen Objekte waren in offenen und geschlossenen Schränken, Truhen oder Schreibtischen mit Laden untergebracht. Bis zurAuffindung des Inventarverzeichnisses in derBibliothek des Fürstenvon Liechtenstein inden Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts galt die Kunst- und Wunderkammer des habsburgischen Kaisers als chaotische Sammlung eines Verrückten. Die Auswertung der umfangreichen Listen gab jedoch zumersten Mal Gelegenheit, den Gesamtkomplex zu beurteilen. Zum Erstaunen der Fachleute wurde ein sinnvoller innerer Zusammenhang sichtbar, nämlich die Klassifizierung der Objekte nach der bereits beschriebenen Weise in „Naturalia“, „Arteficialia“, „Scientifica“, „Exotica“ und „Mirabilia“, ei- ne Einteilung, die so noch nie getroffen worden war, da man sich ja bisher an das System der Materialgleichheit Plinius' des Älteren gehalten hatte.

Der Verfasser des Inventars, der kaiserliche Antiquarius Daniel Fröschl, von dem die unschätzbaren Aufzeichnungen stammen, war nur der „Kompilator der Ideen des Kaisers“, wie Elisabeth Scheicher vermerkt. Das Inventarverzeichnis sei umso wertvoller, als ein Großteil der Sammlung verloren gegangen sei. So seien von den 64 aufgezählten Automaten nur noch zehn in der Wiener Sammlung vorhanden. Elisabeth Scheicher hält auch fest, dass von 156 aufgezählten „geschirrlein aus Diamant, Topas, Achat, Chalzedon, Amethyst, Jaspis, Prasem, Marmor, Bezoar“ nur mehr 20 erhalten seien, der Rest sei in andere Sammlungen verstreut oder aufgrund ungünstiger Besitzverhältnisse zerstört und für immer verloren.

Rudolf II. hatte seine Regierungsgeschäfte über seinem künstlichen Universum mehr und mehr vernachlässigt, und da er unverheiratet blieb und nur illegitime Nachkommen hatte – ein unehelicher, vermutlich geistesgestörter Sohn zerstückelte in sexueller Raserei seine Geliebte –, forderte ihn sein Bruder Matthias, der ganz unter dem Einfluss des fanatischen Kardinals Khlesl stand, auf, einen Thronfolger zu nominieren. Khlesl, Sohn eines protestantischen Bäckers und Motor der Gegenreformation, hatte übrigens im Volk den Beinamen „Vizekaiser“. Rudolf II. übertrug seinem ehrgeizigen Bruder nach einer Aussprache den Oberbefehl im laufenden Krieg gegen die Türken und ließ sich von ihm auf zwei Reichstagen vertreten. 1608 fiel Matthias in Böhmen ein und versuchte Rudolf II. abzusetzen, scheiterte jedoch an den protestantischen Ständen, denen der nur nominell katholische Kaiser lieber war als sein glaubenskämpferischer Bruder. 1609 gestand Rudolf II. den Ständen in Böhmen die freie Ausübung ihrer Religion zu, rüstete auf und wollte gegen Matthias zu Felde ziehen, das angeheuerte „Passauer Kriegsvolk“, die Landsknechte seines verbündeten steirischen Vetters Erzherzog Leopold, brach stattdessen jedoch in Böhmen ein. Matthias nutzte die Gelegenheit, besetzte 1611 Prag und ließ sich, nachdem er den Ständen die Glaubensprivilegien bestätigt hatte, zum König von Böhmen krönen. Rudolf II., dem nur noch der Kaisertitel verblieben war, starb ein halbes Jahr darauf, am 20. Jänner 1612, nachdem er sich geweigert hatte, die Letzte Ölung zu empfangen. Sein Bruder Matthias lebte noch sieben Jahre.

1618 hatte der Dreißigjährige Krieg seinen Anfang genommen. Nach der Schlacht am Weißen Berg begann auch die allmähliche Auflösung, Zersplitterung und Zerstörung von Rudolfs II. Kunst- und Wunderkammer. Jacqueline Dauxois hält fest, dass der bayerische Herzog Maximilian I. 1500 Karren mit Kunstwerken und Wertgegenständen aus Rudolfs II. Sammlung beladen und wegschaffen ließ, als Bezahlung für die militärische Hilfe, die er Kaiser Ferdinand II. geleistet hatte. Seit die Königin von Saba Salomon die Schätze Äthiopiens überbrachte, bemerkt Dauxois, habe man nicht mehr einen solchen Transport von Wunderwerken gesehen – allerdings handelt es sich bei den angeführten 1500 Karren wohl eher um eine propagandistische Zahl. Elf Jahre später, so Dauxois weiter, habe sich der Kurfürst von Sachsen mit weiteren 50 bis zum Rand gefüllten Wagen davongemacht. Am 26. Juli 1648 eroberten die Schweden Prag und besetzten den Hradschin. Graf Königsmarck sandte die Kriegsbeute, fünf Fuhrwerke – in diesem Fall eine schamlose Untertreibung – voller Gold und Silber, an Königin Christine nach Stockholm. Damit hörte die Sammlung endgültig auf, als komplexes Gebil-
de zu bestehen, dennein weiterer Teil war inzwischen schon nachWien geschafft worden. Die schwedische Königin Christine konvertierte übrigens zum Katholizismus und nahm auf eine Pilgerreise zum Papst nach Rom die gesamte geraubte Sammlung mit, um die wertvollsten Stücke großzügig an den Vatikan zu verschenken, darunter Arbeiten aus Koralle, Horn und Elfenbein, aber auch Automaten und wissenschaftliche Instrumente sowie Bilder von Albrecht Dürer. Sogar ihr Bibliothekar und Kustos durfte sich nach Belieben bedienen. Auf diese Weise ging ein Großteil verloren. Zu den mit Sicherheit identifizierten Objekten zählt der 1579 vom Hofuhrmacher Gerhard Emmoser für Rudolf II. aus teilweise vergoldetemSilber angefertigte Himmelsglobus, der sich heute im Metropolitan Museum in New York befindet.

DIE ZERSPLITTERUNG DER SAMMLUNGsetzte sich fort, berichtet Jacqueline Dauxois weiter, „als Friedrich II. von Preußen die Burgin Prag mit Beschuss belegte“. Vieles sei dabei von den verschreckten Bediensteten, die die Kunstwerke in den Keller trugen, beschädigt worden oder zerbrochen. Sie weiß ferner zu berichten, dass Kaiser Joseph II. den Hradschin in eine Artilleriekaserne umfunktionieren ließ. Da er Platz für ein Munitionsdepot brauchte, habe er kurzerhand eine Versteigerung der Kunstwerke ansetzen lassen. Alles, was als wertlos eingeschätzt wurde – Statuetten, Münzen, Muscheln, Fossilien, Gipsformen –, sei damals wie Abfall in den Hirschgraben gekippt worden, noch 50 Jahre später seien Funde in den Schutthaufen gemacht worden. Bei der Versteigerung sei dann Dürers „Rosenkranzfest“ für ein paar Heller unter den Hammer gekommen, ebenso wie die Statue des Ilioneus, für die Rudolf II. laut Inventar 10.000 Dukaten bezahlt habe. Ein Aufsichtsbeamter aus Wien stöberte 1876 weitere Gemälde auf und ließ sie nach Wien bringen, und nicht zuletzt vergriffen sich die Nationalsozialisten an der Sammlung und schickten mehrere Kisten mit Raubgut nachDeutschland. Abgesehen von den gerettetenObjekten in Wien, sindnoch Überreste der gigantischen Sammlungim Palais Sternberg inPrag, in Dresden, München, Stockholm und in aller Welt verstreut.

Was von der Ambraser Sammlung in Innsbruck geblieben ist, wie die Bildnisse der Haarmenschen, Zwerge und Riesen, aber auch „Naturalia“ und „Scientificia“, sah ich an einem verschneiten Winterabend 2005 in Innsbruck. Draußen war es dunkel geworden, und während der Fahrt zum Schloss wurde der jugendliche Chauffeur davon verständigt, dass sein Vater verstorben sei. In gedämpfter Stimmung besichtigte ich deshalb den ohnehin mystischen Ort. Das Museum war für Besucher bereits geschlossen, der Saal nicht geheizt, ich sah meinen Atem weiß vor meinem Mund und schaute mich eine halbe Stunde lang um. Wegen der kurzen Zeit, der widrigen Umstände und aus Mangel an Kenntnissen war es mir nicht möglich, aus den vorhandenen Gegenständen auf das Ganze zu schließen. Aber die damals gewonnenen Eindrücke gingen mir lange nicht aus dem Kopf.

UNTER DEM ÖSTERREICHISCHEN Kaiser Franz I. war der Großteil der Ambraser Sammlung aus Furcht vor Napoleon nach Wien gebracht worden. Sie war ja auch Eigentum des Kaisers, denn Rudolf II. hatte sie, wie erwähnt, für das Haus Habsburg gekauft, aber in Innsbruck belassen. Franz I. stellte sie zuerst in der Stallburg aus – nur die Saliera und jene drei weiteren Gegenstände, die der französische König Karl IX. Erzherzog Ferdinand II. anlässlich seiner Verheiratung mit einer Habsburgerin zum Geschenk gemacht hatte, kamen in die Kunstkammer. Zusammen mit dem St. Wiltener Stiftskelch, den das Kunsthistorische Museum im vergangenen Jahrhundert erworben hat, dürfen sie, wie ein schriftlicher Vermerk in der Vitrine ausdrücklich festhält, nicht nach Tirol entlehnt werden, da das Land Anspruch darauf erhebt.

Die verbliebene Kunst- und Wunderkammer der Habsburger – speziell die „Arteficialia“ und „Scientifica“ – lagert jetzt in Depots oder in geschlossenen Sälen des Kunsthistorischen Museums in Wien. Die „Naturalia“, wie der Narwalzahn, das Rostrum des Sägefischs oder die goldgefasste Smaragdstufe, befinden sich im gegenüberliegenden Naturhistorischen und die „Exotica“, wie die angebliche Federkrone des Montezuma, im nahegelegenen Völkerkundemuseum. Will man also einen Gesamteindruck gewinnen, muss man sich nur umsehen.

Die Kunstkammer der Habsburger imKunsthistorischen Museum soll im Hochparterre verlegt, räumlich erweitert und damit ihrer Bedeutung entsprechend repräsentiert werden. Sie ging aus der kaiserlichen Sammlung hervor und ist noch immer die bedeutendste, umfangreichste und wertvollste der Welt.

ICH GEHE MIT FRAU DOKTOR HAAG,einer belesenen Spezialistin, durch die mitBüchern gefüllten hohen Säle, die für dieSammlung vorgesehensind. Die Abteile sindhell, die Fenster hofseitig gelegen. Für einenAugenblick bedaure ich, dass sich die Studienatmosphäre, die an die Ruhe in den GemäldenVermeer van Delfts erinnert, durch die Umsiedlung auflösen wird, und je länger wir dann durch die dämmrigen Gänge zum fensterlosen Depot im Hochparterre eilen, desto höher sind meine Erwartungen. Dort befindet sich in wuchtigen Vitrinenschränken ein Viertel der vorhandenen Sammlung; von herrlichen Schüsseln aus Bergkristall über vergoldete Tischuhren bis zu Gegenständen aus Perlmutt und Schildpatt sehe ich alles vor mir, worüber ich seit Wochen gelesen und nachgedacht habe. Jeder einzelne Gegenstand wird ins Auge gefasst oder zumindest flüchtig gestreift, obwohl die Fülle kaum zu bewältigen ist: der merkwürdige, goldgefasste Bezoar und der Nashornpokal, die Bernsteingefäße, Tricktrack-Spiele aus edlem Holz, die reich dekorierte Nautilusschnecke und das Straußenei, gemalte Spielkarten und Hunderte andere Schönheit ausstrahlende Objekte. Über das noch verstecktere Stiegendepot, in dem die Kostbarkeiten frei auf Regalen stehen, in die geschlossenen Ausstellungsräume der Kunstkammer, wo sich mehr als die Hälfte der Sammlung zumeist in Schränken mit verglasten Türen befindet, speziell Objekte aus Bronze und Glas. Aber es findet sich neben dem Wald aus Statuetten und Kristallgläsern auch Schnitzwerk aus Elfenbein, es finden sich Büsten, weitere Tischuhren und Automaten, von denen längst kein Spielwerk mehr funktioniert.

Die Kunstkammer ist wahrlich ein Wunder, das Einblick bietet in das Denken und Selbstverständnis einer Zeit im Aufbruch, in die Anfänge und Entstehung der modernen Wissenschaften, in das mechanische Zeitalter, die Wurzeln der Aufklärung, die noch unter der Erde der religiösen Vorstellungen begraben ist, aber schon ans Tageslicht drängt. Und ich denke auch daran, dass Dinge oft mehr Wert besitzen als Menschen. Wie viele Leben sind für die Sammlung ausgenützt, versklavt oder vernichtet worden? Wie viele Objekte verdanken ihr Dasein der Gier, die sich des Betrugs, der Unterdrückung, des Totschlags und des Mordes bediente? Nicht wenige Gegenstände sind zugleich auch Urnen, in die ein tierisches oder menschliches Schicksal mit eingeschlossen ist. Auf der Suche nach dem Einzigartigen und Schönen, Macht und Reichtum zählt die bloße Existenz oft wenig, selbst Leichenraub ist davon nicht ausgenommen.

WÄHREND ICH DURCH die verlassenen Räume gehe und nur meine Schritte höre, kommt mir die Kunstkammer wie im Dornröschenschlaf liegend vor, gleich den ägyptischen Mumien, die in Eisenschränken in einem ebenerdigen Depot des Kunsthistorischen Museums ruhen und in deren Antlitz ich an einem anderen denkwürdigen Tag geblickt habe.

Das riesige Kunsthistorische Museumträumt, denke ich, die Säle und Depots sind begehbare Träume der Menschheit, in denen wir uns selbst erkennen können. Die zersplitterte und nur zum Teil wieder zusammengeführte Sammlung aus dem Hrad- schin und Schloss Ambras erzählt aber auch – wie die Gemälde, die antiken Skulpturen und die ägyptische Sammlung – nicht nur die Geschichte von der namenlosen Gier und Neugier der Menschen, sondern auch das endlose Epos vom Entstehen, Verschwinden und Wiederauftauchen der verlorenen Zeit.

Geboren 1942 in Graz. Lebt in Wien und inder Südweststeiermark. Autor der Prosazyklen „Die Archive des Schweigens“ und „Orkus“. Im Brandstätter Verlag ist soeben sein Fotoband „Atlas der Stille“ herausgekommen; im Herbst erscheint bei S. Fischer sein Erinnerungsbuch „Das Alphabet der Zeit“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.04.2007)

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