Und nun?

Rostige Bohrtürme und verlassene Werkshallen, leere Spinde und tote Telefonleitungen. Die Industrieruinen Osteuropas: über Fortschrittsglauben und Verfall.

Verlassene Kokereien, Bergwerke und Hütten, verrammelte Stollen und verwahrloste Brachen, rostige Bohrtürme und öde Werkshallen, leere Spinde, tote Telefonleitungen, abgesperrte Gashähne: Industrieruinen, stillgelegt und dem Verfall preisgegeben. Sie atmen den Fortschrittsglauben und die Höhenflüge vergangener Zeiten, sie berühren unsere Vorstellung von Sein und Vergehen.

Ob in Polen, Rumänien oder der ehemaligen DDR, ob in Russland, China oder der Mongolei – eines scheint allen Orten gemeinsam: Hinter den Ruinen, deren wehmütige Aura sich in den Vordergrund drängt und zur Verklärung einer vermeintlich grandiosen Vergangenheit anregt, stecken Geschichte und Geschichten – und mit ihnen Schicksal und Identität ganzer Landstriche und ihrer Bewohner. Vier Momentaufnahmen, stellvertretend für viele.


Walim oder Wüstewaltersdorf,
wie die polnische Stadt einst hieß. Ein unscheinbarer Flecken in Niederschlesien, einer uralten Industrieregion mit Bergwerken, Hütten und Webereien. Ihre Geschichte geht bis ins Mittelalter zurück, schlesische Leinenstoffe waren in ganz Europa berühmt und gefragt.

„Im düstern Auge keine Träne, / Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne: / ,Deutschland, wir weben dein Leichentuch, / Wir weben hinein den dreifachen Fluch –, / Wir weben, wir weben!‘“, so Heinrich Heine über die Aufstände der Weber, die mehrmals gegen Hunger und Ausbeutung auf die Barrikaden stiegen und die Villen der Fabrikanten stürmten.

Am bekanntesten sind die Proteste vom Juni 1844, als die verarmten Weber durch Peterswaldau und Langenbielau zogen, um für höhere Löhne zu kämpfen: eine der blutigsten frühindustriellen Arbeiterrevolten, niedergeschlagen durch das Eingreifen des Militärs und die Verteilung von Geld und Schnaps. Elf Menschen wurden erschossen, 24 schwer verletzt. Mit der Verbreitung der mechanischen Webstühle und dem Ausbau des Eisenbahnnetzes brach auch für Schlesien eine neue wirtschaftliche Ära an. Im 19. Jahrhundert wurden riesige Fabriken hochgezogen, die sich als architektonische Visitenkarten ihrer Besitzer präsentierten: pompös in den Ausmaßen, anspruchsvoll in der technischen und selbstbewusst in der dekorativen Gestaltung.

Und heute, nach der Schließung des Werks von Walim? Leere Mauern, die langsam in sich zusammenfallen. Die Dächer sind eingestürzt, das Holz der Tür- und Fensterstöcke herausgebrochen. Glassplitter liegen am Boden, in den dunklen Ecken zerdrückte Bierdosen und Müll. Ein Mann streunt die Wände entlang und lädt Ziegel in eine Plastiktasche. Hier wird alles gebraucht.


Crivina im Banat. Als man in der Einöde des Semenik Gebirges bitumenhaltigen Ölschiefer entdeckte, begannen in Bukarest große Planungen: Ein Paradeprojekt sollte es werden, das Wärmekraftwerk Crivina. Im Frühjahr 1977 setzte sich eine aufwendige Maschinerie in Gang: Teile eines Berges mussten gesprengt, Straßen erweitert und Wohnhäuser für die Arbeiter und ihre Familien errichtet werden. 1984 ging das Kraftwerk in Betrieb – wenig effizient, wie sich schnell herausstellte. Es lief nie mit voller Kapazität, dafür war der kalorische Wert des Schiefers zu gering. Im Herbst 1988 brach die größte Turbine zusammen. Man schickte sie zur Reparatur nach Bukarest und wartete vergeblich auf ihre Rückkehr. Die Wohnhäuser in Crivina waren noch nicht fertig, als das Kraftwerk 1989 wieder geschlossen wurde. Ein Stück absurden Theaters.

Von den ursprünglich 8000 Arbeitern blieben 450 zurück, um die Anlage zu bewachen und die Maschinen zu warten. Erst im Jahr 2000 schließlich wurde das Kraftwerk verkauft. Eine griechische Firma, so wird kolportiert, habe 1,5 Millionen Dollar bezahlt, das sind etwa zehn Prozent des ursprünglich angesetzten Kaufpreises. Seit diesem Zeitpunkt ist man beschäftigt, die Überreste des Kraftwerks zu Geld zu machen. In den Transformatoren stecken Kupfer und Aluminium. Auch damit lassen sich satte Gewinne einfahren. Der Wert der gesamten Anlage sei um ein Vielfaches höher, munkelt man, immerhin seien in Crivina noch 150.000 Tonnen Eisen zu holen. Gute Geschäfte. Von solchen Zahlen können die paar Menschen, die im Ort ausharren, nur träumen. Sie leben im Niemandsland. Die Wohnblocks stehen leer, man hat Türen und Fenster aufgerissen und die Räume geplündert. Die übrigen Häuser, nichts als einfache Hütten, verfallen. Leicht entzündliche Schlacken bedecken den Boden. Hier ist schlecht sein.


Copsa Mics. Früher war der kleine Ort nahe Hermannstadt ein bekanntes Wein- und Obstanbaugebiet. Doch seit der Ansiedlung der Carbosin-Fabrik sind diese Zeiten vorbei. Zwischen 1936 und 1993 wurde hier Industrieruß gewonnen, ein schwarzes Pulver, das man bei der Herstellung von Kautschuk für Reifen, Farben oder Gummiprodukte benötigt. Unmengen von ungefiltertem Ruß gelangten jedes Jahr über die Schornsteine in die Atmosphäre. Copsa Mics verwandelte sich in ein schwarzes Dorf: Häuser, Wiesen und Bäume waren von einem öligen Film überzogen, die Böden bis in drei Meter Tiefe verseucht, die Flüsse biologisch tot.

Seit der Schließung der Fabrik hat sich manches verändert: Die kleinen Katen sind bunt gestrichen, die Apfelbäume blühen, auf den Wiesen grasen die Kühe. Doch die Idylle trügt. Die Natur erholt sich nur langsam, aus der benachbarten Buntmetallfabrik gelangen immer noch Blei und Kadmium ins Grundwasser. Die Säuglingssterblichkeit ist hoch, die Kinder bleiben kleinwüchsig und untergewichtig, die Erwachsenen leiden unter Lungenkrankheiten und Anämie. Ferkel kommen mit drei Beinen auf die Welt, bei den Schafen wurde eine gehäuft auftretende Lähmung der Gliedmaßen diagnostiziert. Landwirtschaftliche Produkte aus Copsa Mics dürfen nicht verkauft, sondern nur für den Eigenbedarf angebaut werden. Die Bewohner des Dorfes weigern sich, die Grundsteuer zu zahlen. Der Boden ist fast wertlos geworden, die Armut schmerzhaft.


Calan, Transsilvanien. Einst das drittgrößte Zentrum Rumäniens zur Gewinnung von Eisen und Stahl. Schon im 19. Jahrhundert entwickelte sich hier ein riesiger Industriebetrieb. Sein Name, Victoria, wird zum Programm, Exporte gingen in alle Teile Europas: Bis nach Paris sei der Calaner Stahl gekommen, erzählt man sich, seine Majestät, der Eiffelturm, könne das bezeugen.

In Blütezeiten waren in Calan bis zu 8000 Personen beschäftigt. Spätestens nach der Wende begann der Abstieg. Man teilte Victoria Calan in zwölf kleinere Gesellschaften auf, die mit großen Ambitionen und wenig Erfahrung in die neuen Zeiten starteten. Nur eine einzige überlebte. Doch man produzierte zu wenig effizient. Die Betriebsstruktur wechselte 2003 ein weiteres Mal. Deutsche Investoren wurden gefunden, doch deren Geduld schien schnell erschöpft, als die erwarteten Erträge ausblieben. Der Kollaps war nicht mehr abzuwenden. Und nun? Kleine Teile der Fabriken arbeiten noch, die meisten wurden demontiert, andere ausgeweidet und stehen gelassen. Wachleute sollen „Industriespionage“ und Diebstähle verhindern, sie patrouillieren mit Schlagstöcken und scharfen Hunden über das verwachsene Gelände. Etwa 40 Prozent der Bevölkerung von Calan sind arbeitslos und ohne Perspektive. Wer mutig ist, überwindet den Stacheldraht, um ein paar Eisenstücke zu ergattern und sie für ein paar Lei zu verscherbeln.


Nicht nur Menschen tragen an der Geschichte, auch die Natur ist gezeichnet: In der ostdeutschen Niederlausitz wurden neben zahlreichen sorbischen Dörfern auch 3000 Hektar Kulturland der Förderung von 300 Millionen Tonnen Braunkohle geopfert. Zurückgeblieben ist ein Stück Steppe, vom Tagbau geschunden und geplündert.

Und die Industriebauten selbst? Wie Mahnmale thronen sie in der Landschaft. Was tun mit diesen abgetakelten Industriedampfern? Einige sind partiell stillgelegt, etliche werden als Lagerhallen verwendet oder anderen industriellen Nutzungen zugeführt. In manchen haben sich Obdachlose, Künstler oder Kulturzentren eingenistet, andere versucht man abzutragen und zu verkaufen. So geschehen mit der Dortmunder Westfalenhütte von Thyssen-Krupp: Die chinesische Jiangsu Shagang Group, einer der größten Stahlproduzenten der Welt, schlug zu. Zwei Jahre dauerte der Abbau der Anlage, die via Lastwagen und Schiff nach Shanghai transportiert und dort 2003 neu aufgebaut wurde: die größte Demontage der Industriegeschichte. Ein teures Unterfangen, lohnend nur dann, wenn die Anlage in bestem Zustand ist. Doch wer will abgewrackte Betriebe aus Kasachstan, Albanien oder Aserbaidschan?

Viele der Ruinen bestehen weiter,
Geisterstädte, in denen Dohlen und Elstern hausen und Flechten über die rostigen Gestänge kriechen. Erst jetzt, da sich der Mensch aus ihnen zurückgezogen hat und sie der Nutzlosigkeit preisgegeben scheinen, entwickeln die Mauern ein Eigenleben. Sie gehören nur mehr sich selbst. Ästhetik und Eigenart der ehemaligen Kathedralen der Arbeit lassen sich nicht brechen. Eisern setzen sie sich gegen den eigenen Niedergang zur Wehr, in ihrem Beharrungsvermögen entwickeln sie eine neue Form der Selbstsicherheit, fast schon Erhabenheit. Als Überreste technischer Tempel triumphieren sie über den Menschen: Sie haben sich den Strategien der Diktatoren angepasst, sie haben Revolutionen überdauert und politische Umwälzungen. Unzählige Arbeiter, Ingenieure und Direktoren, die in den Fabriken gedient haben, sind tot und unter der Erde. Allein die Ruinen gibt es immer noch. Sie strecken ihre Arme in den Himmel.

In ein paar Jahren werden viele dieser Ruinen verschwunden sein. Was wird bleiben? Ein paar Mauern, Steine und Eisengerüste, ein elegisches Memento mori: dass Zeit zerfalle. Sie werfen uns auf das Wesentliche zurück, auf die eigene Endlichkeit. „Mein Beruf: Ruinenbauer. Meine Berufung: Ruinenarchitekt. Mein Laster: Ruinenvoyeur. Fragt mich nicht nach vergessenen Orten“, heißt es beim rumänischen Dichter Mircea Cartarescu. „Versammelt euch um mich, öffnet meinen Schädel und betrachtet mein Hirn: Unter euren Augen wird es zerbröseln wie Gipsmull. Und sein Staub wird sich ununterscheidbar mit dem Staub der Ruinen vermischen, zwischen denen ich mein ganzes Lebens gelebt habe, der Liebhaber eines Harems von Ruinen.“ ■

STILLGELEGT: Die Ausstellung

Ab 30. November zeigt das Leopold Museum im Wiener Museumsquartier Arbeiten des aus dem Bregenzerwald gebürtigen Fotografen Christoph Lingg: „Stillgelegt – Industrieruinen im Osten“. Geöffnet täglich 10 bis 18 Uhr, Donnerstag bis 21 Uhr.

Christoph Linggs gleichnamiger Fotoband, erschienen in der Edition Aufbruch, Wien, ist über die Internetadresse www.editionaufbruch.com zu beziehen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.11.2007)

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